Ein Kelch voll Wind
Prolog
Wenn die Jalousien heruntergelassen waren, musste man die Tür zum Zugabteil aufstoßen, um zu sehen, wer darin saß. Das hatten ich und meine Freundinnen Alison und Lynne in den letzten vier Minuten begriffen, in denen wir durch die Zugwaggons gestürmt waren und nach unserer Reiseleiterin Ausschau gehalten hatten.
»H ier ist sie nicht!«, rief Alison, während sie in ein Abteil hineinspähte.
Durch eine Scheibe sah ich ein paar deutsche Geschäftsleute in Tweedanzügen. »H ier auch nicht«, gab ich zurück.
»M einst du, sie hat irgendwas Schlechtes gegessen?«, fragte Alison. »D ie arme Anne, also ehrlich. Igitt.«
»W as auch immer es war, ich gehe da nicht wieder rein«, erklärte Lynne und öffnete mit Schwung eine weitere Tür. »U ups! Entschuldigung!« Mit einer leichten Verneigung schloss sie die Tür hinter einem jungen Pärchen, das in dem Abteil am Rummachen war. Wir brachen in schallendes Gelächter aus.
Arme Anne. Es war erst der dritte Tag unserer Junior-High-Europareise. Nachdem wir Belgien in Windeseile abgehakt hatten, rasten wir nun durch Deutschland, um dann in vier Tagen in Frankreich anzukommen. Aber wenn Anne ernsthaft krank war, dann würde sie nach Hause fliegen müssen. Vielleicht lag es ja wirklich nur am Essen. Unsere Aufsicht, Ms Polems, würde das entscheiden.
»T hais, guck mal hier!«, rief Lynne, während sie auf eines der Abteilfenster deutete.
Ich legte mir die Hände wie eine Taucherbrille um die Augen und presste sie gegen die Scheibe. Als dahinter vier vertrottelte Sportfreaks aus der Unterstufe zu johlen und zu pfeifen anfingen, zuckte ich jäh zurück.
»T räumt weiter«, sagte ich angewidert. »A ls würde ich auf so was einsteigen!«
»U ps! Entschuh … Entschuld…«, stotterte Alison in einer anderen Abteiltür in unbeholfenem Deutsch.
»E ntschuldigung!«, trällerte Lynn, während sie Alison zurück in den Gang zog.
Ich grinste den beiden zu. Auch wenn Anne krank geworden war, war das bislang eine super Reise.
Entschlossen packte ich den Griff der nächsten Abteiltür und zerrte daran. Drinnen saßen vier Touristen, aber keine Ms Polems. Wo zum Teufel war sie hinverschwunden?
»O h, Entschuldigung«, sagte ich und trat einen Schritt zurück. Zwei der Männer starrten mich an und ich stöhnte innerlich. Ich hatte vorhin schon ein paar überfreundliche Einheimische abwimmeln müssen, mein Bedarf war eindeutig gedeckt.
»C lio?«, fragte einer von ihnen mit sanfter, kultiviert klingender Stimme.
Ja klar. Netter Versuch. »N ein, tut mir leid«, sagte ich energisch und schloss die Tür wieder. »H ier ist sie auch nicht«, rief ich Alison zu.
Drei Türen weiter schwang sich Lynne aus einem Abteil in den Gang. »H ab sie gefunden!«, rief sie, und ich lehnte mich erleichtert gegen ein schwankendes Zugfenster, während die wunderschöne, bergige deutsche Landschaft kilometerlang daran vorüberzog. Ms Polems und Lynne eilten an mir vorbei. Ich schlenderte hinter ihnen her und hoffte, dass Pats und Jess in der Zwischenzeit versucht hatten, unser Abteil ein bisschen aufzuräumen.
Jules starrte schweigend auf die Abteiltür, die gerade laut eingerastet war. Dieses Gesicht…
Er wandte sich um und blickte seinen Begleiter an, einen Freund, den er bereits seit ewigen Zeiten kannte. Daedalus sah genauso erschrocken aus, wie Jules sich fühlte.
»D as war ganz sicher Clio«, sagte Daedalus leise, damit ihn seine Sitznachbarn nicht hören konnten. Seine eleganten, langen Finger strichen durch das graue Haar an seinen Schläfen. Trotz seines fortgeschrittenen Alters war es immer noch voll. »C lio, so hieß sie doch, nicht wahr? Oder war es… Clémence?«
»C lémence hieß die Mutter«, murmelte Jules. »Die, die gestorben ist. Wann hast du das Kind zum letzten Mal gesehen?«
Daedalus fasste sich nachdenklich ans Kinn. Beide Männer blickten auf, als ein kleiner Pulk von Schülern von einer dienstlich aussehenden, älteren Dame den schaukelnden Gang entlanggeführt wurde. Er sah sie noch einmal– dieses Gesicht–, dann war sie verschwunden. »V or vier Jahren vielleicht?«, schätzte er. »S ie war dreizehn und Petra war gerade dabei, sie einzuweihen. Ich habe sie nur aus der Entfernung gesehen.«
»D iese ganze Sippe ist schon wirklich unverkennbar«, sagte Jules mit gedämpfter Stimme. »D as war sie immer.«
»J a.« Daedalus runzelte die Stirn. Ihm war klar, dass das alles keinen Sinn ergab, und seine Gedanken wirbelten durcheinander. »S ie
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