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Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Titel: Zwölf Wasser Zu den Anfängen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Greiff
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lassen. Widerstand wäre zwecklos gewesen, Belendra hatte schon den süßen Duft der Rache in der Nase, sie wollte, sie musste zuschnappen, und zwar sofort. Dass ein nächtlicher Aufbruch in Pram eine Ankunft bei Sonnenaufgang zur Folge hatte, konnte nur derjenige für nicht inszeniert halten, der keine Ahnung vom Theater hatte.
    Belendra blinzelte unter dichten Wimpern ins weiche, rosarote Licht. Der Morgendunst, der vom Fluss heraufkroch, umwirbelte ihre hohe Gestalt wie der allerzarteste Schleier. Der glatte, helle Stoff ihres Kleides fing die ersten Sonnenstrahlen und hüllte sie in einen magischen Glanz. Sie war ein Wunder, eine Erscheinung, der wahr gewordene Traum jedes gerade sich aus dem Schlaf kämpfenden welsischen Soldaten, und sie würde für immer der Maßstab vollkommener Weiblichkeit bleiben in der Vorstellung der Jungen, die ihr Frühstück vergaßen und die, noch bevor die Löffel aus den Händen in die Suppe gefallen waren, in Belendras Anwesenheit zu Männern geworden waren. Sie aber interessierte sich nicht für Männer. Sie war auf der Suche nach einer Frau.
     
    Wigo und Belendra fanden sie in dem verwahrlosten Lagerraum eines ehemaligen Gasthofs. Sie war nicht bei den anderen Welsen, die sich unter der Aufsicht einiger gelangweilter pramscher Soldaten zum gemeinsamen Frühstück versammelt hatten, aber doch ganz in der Nähe. Sie hatte sich schon von den Ihren getrennt, aber noch keinen neuen Anschluss gefunden. Als Belendra und Wigo den muffig riechenden Raum betraten, half sie gerade einem Mädchen in ein ärmelloses Hemd. Ein kleiner Junge saß auf altem Sackleinen und versuchte mit ungelenken Bewegungen, abstehende Fäden zu greifen. Das Mädchen sagte etwas und sie fuhr herum, richtete sich auf. Und Wigo war augenblicklich hellwach.
    Sie war dünn wie ein Halm, aber deutlich größer als er selbst. Ihre langen Haare waren stumpf und verfilzt, aber von einem so leuchtenden Rot, wie Wigo es nie zuvor gesehen hatte. Bläuliche Schatten unter großen Augen ließen die Haut des schmalen Gesichts noch weißer wirken. Die blutleeren Lippen waren fest verschlossen. Das also war Felts Frau. Das waren Felts Kinder.Wigo hätte noch Hunderte von Schriften über die Welsen, über ihren Stolz, ihr großes Reich und ihren Untergang lesen können, er hätte nicht mehr von ihrem Wesen und ihrer Geschichte verstanden, als ihm in dem einen Moment klar wurde, in dem er sie sah: Estrid. Belendra hatte ihren Namen in Erfahrung bringen können, aber wer Estrid wirklich war, darauf hatte man Wigo nicht vorbereitet. Estrid war Widerstand. Widerstand gegen sich selbst, gegen ihre Gefühle, von denen sie sich nicht überwältigen ließ, gegen die jämmerliche Einsamkeit, die sie umgab, gegen eine Schuld, die zu tragen sie sich weigerte, und gegen die frühen Besucher, von denen sie nichts wusste und doch nichts Gutes dachte. Sie tat nichts. Sie sagte nichts. Sie stand einfach da, hoch aufgerichtet in Schmutz und Staub, und schaute und wartete.
     
    Wigo hatte sich, seitdem er denken konnte, bemüht zu verstehen. Er hatte gelesen. Weil er aber, je mehr er las, je älter er wurde, eine immer größer werdende Ungewissheit spürte, hatte er das Gespräch gesucht und die Nähe zur Macht   – er hatte in endlosen Diskussionen die Ansichten der Seguren zu jedem erdenklichen Thema ergründet und es bis an den Hof geschafft. Er war bis ins Zentrum des Geschehens vorgedrungen. Indem er nun nicht mehr nur las, sondern aufschrieb, was er beobachtete, begriff er besser, wie die Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpft war und wie weit das Jetzt in die Zukunft hineinreichte. Denn nur darum ging es. Sein Wissensdurst, seine unstillbare Neugierde, war nichts anderes als die Angst vor dem undurchdringlichen Nebel, der die Zukunft war. Er ahnte, dass alles mit allem zusammenhing, er ahnte, dass die Kette von Ursache und Wirkung unendlich lang war, und er zerrte an ihr. Er holte Glied um Glied aus dem Dunkel des Gestern, aber er wagte nicht, sich umzuwenden und dem Strang der Geschehnissein den Nebel des Morgens zu folgen. Er fürchtete, dass der Nebel zu Rauch wurde. Zum Rauch eines Feuers, das sie alle verschlingen würde. Zum Rauch eines Feuers, das Vergangenheit war   – und Zukunft.
    Dann waren die Welsen und Undae in die Stadt gekommen und er hatte den Zug an der Kette gespürt, die Bewegung einer neuen, ganz und gar unberechenbaren Zukunft.
    Nun stand sie vor ihm.
    Diese große, schlanke, heimatlose Frau. Sie hatte sich

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