Zwölf Wasser
wieder hinabzusteigen.
»An einen Überfall glaube ich nicht«, sagte er. »Ich habe weder Blut gesehen noch sonst irgendwelche Spuren eines Kampfes. Das sieht mir eher nach einem Aufbruch aus … einem sehr überstürzten Aufbruch.«
»Ihr meint eine Flucht? Aber wovor?«
Marken trat nah an die niedrige Ummauerung des Dachs und blickte über die verlassene Stadt. Wie viele Menschen mochten hier gelebt haben? Tausende, vielleicht zehntausend, mehrjedenfalls, als es Welsen auf dem Kontinent gab. Hal hatte im Morgenlicht seine klaren Konturen zurückerhalten. Allein es half nicht. Die Nachtschatten waren zwar vorerst besiegt, aber nicht sie hatten all diese Menschen in die Flucht geschlagen. Die Schatten waren Markens Hirngespinste, waren seine eigene, kleine Furcht. Was hier vor sich ging, war viel größer.
»Es muss etwas Großes sein«, hörte Marken sich dem Kameraden Antwort geben. »Nur etwas Großes, Ungeheures kann die Bürger von Hal dazu getrieben haben, ihre Häuser zu verlassen. Alles einfach zurückzulassen. Eine ganze Stadt.«
»Und sie sind wirklich alle fort?«, fragte Strommed seltsam hohl. Die Frage verklang und er erwartete keine Antwort mehr, er wusste, sein Offizier hatte keine. So starrten sie beide stumm über die flachen Dächer und an den toten Fassaden der Häuser stieg ein Grauen zu ihnen auf, das weder Nacht noch Tag kannte, sondern zeitlos war.
2
Wo sind sie? Wo sind sie bloß alle? Sind sie wirklich alle fort?
Um das herauszufinden, hatte Marken Strommed wieder losgeschickt – ihn und vier Pramer. Die anderen vier Soldaten hatte er an den Ecken des Dachs postiert. Von hier aus hatten sie einen guten Überblick, das Haus war eines der höchsten der Stadt und erinnerte an einen Wehrturm, wobei alle Gebäude von Hal mit ihrer verschachtelten Rechtwinkligkeit, mit engen Fensterschächten in dicken Mauern und massiven Holztüren etwas Wehrhaftes, beinahe Kriegerisches ausstrahlten. Hier konnte man sich bestens verschanzen. Warum also fliehen?
Marken wandte den Blick ab von den leeren Dächern, unbelebten Straßen und verödeten Plätzen. Seine Furcht war im hellen Licht wieder zu Nervosität und Missmut geschrumpft und er ahnte, woher der kam: Marken fühlte sich überrumpelt, von den Ereignissen überholt, und zwar nicht erst seit diesem Morgen im ausgestorbenen Hal, sondern bereits seit Zehnen. Angefangen hatte es an jenem Abend zu Beginn der Schneeschmelze, an dem die Undae die Offiziere zu sich in die Grotte befohlen und seit Menschengedenken das erste Mal gesprochen hatten: Etwas geht vor. Eile! Weitergegangen war es im Höhenlager, als die Sedrabras über sie hergefallen waren, und dann am Ufer des Eldrons, am Posten im grauen Ascheschlamm, wo man die Offiziere und Soldaten festgesetzt hatte. Marken hatte die Führung des Trecks innegehabt und ihm hatte stets das Gefühl zugesetzt, der Situation nicht gerecht zu werden. Felt wäre der bessere Führer gewesen. Schließlich hatten sie ihm das königliche Schwert geschmiedet, nicht wahr? Selbst wenn Felt nichts davon wusste. Marken lächelte, schmal und bitter. So, wie er Felt kannte, würde es dem Freund ganz ähnlich gehen wie Marken: Etwas ging vor und er hatte das Gefühl hinterherzurennen.
Und was genau ging nun hier vor? Warum waren die Kwother alle fort? Markens Augen folgten Smirn, die lautlos in langsamen Schleifen über die bräunlichen und sich allmählich erwärmenden Fliesen des Dachs wandelte. Ihr Gewand schimmerte silbern in der Morgensonne, sie hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Nachdem sie auf seine Bitte hin mit den pramschen Soldaten die sieben Stockwerke hier hinaufgestiegen war – sicher ist sicher –, hatte die Unda ihn ernst angeblickt. Aber die wasserhellen Augen in dem dunkelhäutigen, narbengeschmückten Gesicht blieben für Marken unergründlich; falls sie ihm stumm etwas mitteilen wollte, verstand er es nicht. Smirn war fast immer ernst, fast immer schweigsam, Marken hatte sich daran gewöhnt. Aber seitdem er sich von den Kameraden hatte trennen müssen, fiel ihm wieder auf, wie wortkargSmirn war. Keine der drei Undae war geschwätzig, aber in den Augen der schönen Utate lag eine beinahe mütterliche Geduld, wenn sie über die Quellen sprach und etwas erklärte. Reva, noch kleiner als Smirn und so zartgliedrig, dass es fast beängstigend war, lächelte oft. Dann spürte man ein Wohlwollen, die gute Absicht hinter allem, was die Hohen Frauen taten, ob man es nun verstand oder nicht.
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