TV-Produktionsfirmen mit (2001) über 3.000 Mitarbeitern und nahezu einer Milliarde Euro Umsatz entwickelt.
Dieser ungewöhnliche Erfolg trug zur Entwicklung eines ganz neuen TV-Genres bei, das man »Affektfernsehen« genannt hat (vgl. Bente & Fromm, 1997). Seine Kennzeichen sind Personalisierung, Authentizität, Intimisierung und Emotionalisierung. Die Sendungen konzentrieren sich auf einzelne Menschen und Einzelschicksale, stellen diese in den Mittelpunkt des Geschehens (= Personalisierung). Es muß sich ferner um wahre Geschichten handeln, die möglichst Live-Charakter haben sollen (= Authentizität). Schließlich geht es immer um private, zwischenmenschliche Angelegenheiten (= Intimisierung), bei denen immer die emotionalen Seiten der Geschichten in den Vordergrund gestellt werden (= Emotionalisierung). Zusammengefaßt kann man das neue Genre also als moderierte Sendungen aus realen, intimen und anrührenden Geschichten von und über Einzelpersonen bezeichnen, die von den jeweiligen Produktionsfirmen inszeniert und gewinnbringend verkauft werden.
Nach allem nun noch einmal gefragt: Kündigt sich in der Figur der Linda de Mol wiederum ein neuer Sozialcharakter an? Die Antwort ist: Ja, denn durch ihre Tätigkeit als Moderatorin in den ersten Sendungen des Affektfernsehens präsentierte sie einen neuen Typus erfolgreichen ökonomischen Handelns, den Gefühlsarbeiter. Wie der Holländermichel seine Flößerkollegen aus dem Schwarzwald zum Verkauf des Holzes auf eigene Faust angestiftet hat, so führte sie einem Millionenpublikum vor, wie man sich durch die Darstellung und den Verkauf von Gefühlen schöne Kleider, einen vornehmen Wagen und Geld im Überfluß beschaffen kann. Ihre Sendungen waren frühe Lehrfilme für effiziente Gefühlsarbeit, und insofern hat sie zum Entstehen eines neuen Sozialcharakters ebenso beigetragen wie ihr von Wilhelm Hauff erfundener Landsmann.
2. Histrio – Der neue Sozialcharakter
Von Wilhelm Hauff zu Leonard Bernstein, vom kalten Herzen zur Westside-Story: Wer hat nicht die Szene aus dem 1961 produzierten Film in Erinnerung, in der die Mitglieder der weißen Gang, die Jets, sich mit dem Song »Just play it cool, boy« massiv zu emotionaler Selbstkontrolle zwingen? Warum eigentlich, kann man fragen, wo doch die aufgeheizte Situation – die beiden Bandenführer Riff und Bernardo sind tot, Bernardos Mörder Tony wird von der Polizei gesucht, die ratlose Gang wird bei ihrem Treffen in einem Hinterhof von einem Anwohner massiv beschimpft – genau das Gegenteil provoziert?
Die Antwort gibt eine Untersuchung des amerikanischen Historikers Stearns (1994). Er hat – rund 170 Jahre nach Wilhelm Hauff- die emotionalen Veränderungen der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts durch eine Analyse von Ratgeberliteratur und Magazinen empirisch untersucht. Dabei zeigte sich für das Gefühl der Wut, daß noch um das Jahr 1900 Wissenschaftler und Pädagogen die amerikanischen Männer ermutigten, ihre Wut immer und überall offen zu zeigen. Wenig später aber, zu Beginn der 20er Jahre, hatte sich dies bereits grundlegend geändert. Nun sollten die Männer ihre Wut beherrschen, sie weder im Betrieb noch im Privatleben ausleben. Die Forderung nach emotionaler Selbstkontrolle galt aber auch für die meisten anderen Gefühle, wie Liebe oder Traurigkeit; Stearns (1994) bezeichnet dies als die »American cool«-Hypothese. Die Ursache für das rasche Umschlagen der Gefühlskultur liegt nach Ansicht des Historikers darin, daß die Eliminierung von Gefühlen besser zu den neuen Management- und Dienstleistungsberufen paßte.
Diese benötigten glatte Persönlichkeiten – gleichermaßen einsetzbar in Herstellung, Management und Verkauf.
Was die Jets in der Westside-Story also tun: Allesamt Kinder von Einwanderern, zwingen sie sich in einer Krisensituation unter die Herrschaft der amerikanischen Gefühlsregeln. Wenn sie ihre Gefühle zeigen, das ist ihre Angst, sind sie verletzbar und ausnutzbar. Die Botschaft des Songs Cool ist inzwischen als »echt cool« auch in der Alltagssprache der Jugend bei uns angekommen. Auffällig ist allerdings, daß »cool« allein nicht mehr reicht, es muß mittlerweile auch »echt« sein. Hier zeigt sich – so kann man vermuten – ein intuitives Unbehagen junger Menschen gegenüber emotionalem Oberflächenhandeln.
Offenbar also unterliegen Gefühle und ihre Darstellungsregeln historischen Veränderungen. In der höfischen Kultur des Barock beispielsweise war es ziemlich egal,
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