Der einzige Sieg
Prolog
Es dürfte nur selten nötig sein, einem Menschen die Haut abzuziehen. Dies jedoch war ein solcher Ausnahmefall.
Man würde nämlich erst dann an die Wahrheit herankommen, wenn man dem Verstorbenen, wie es im Jargon einiger Gerichtsmediziner hieß, das »Hautkostüm« abzog. Falls es überhaupt eine Wahrheit zu finden gab. Das konnte im voraus jedoch niemand wissen. Alles beruhte auf der, wie es schien, weit hergeholten Vermutung eines Kriminalinspektors in Norrbotten, den man sogar verdächtigen konnte, er verfolge nicht zuletzt seine eigenen Ziele. Diese Angelegenheit sei prestigegeladen, hieß es.
Rein technisch ist es nicht besonders schwierig, einen Menschen zu häuten. Die menschliche Haut ist fast völlig frei von Pelz und überdies relativ weich und geschmeidig. Die Schwierigkeit ist eher gefühlsmäßiger Art, und um das zu vermeiden, greift man gern zu passenden medizinischen Umschreibungen – so kann man die Prozedur beispielsweise »erweiterte gerichtsmedizinische Untersuchung« nennen. Für die Angehörigen, in diesem Fall eine junge Ehefrau und Eltern, ist es leichter zu erfahren, daß der geliebte Verblichene einer erweiterten gerichtsmedizinischen Untersuchung unterzogen worden ist, als zu hören, daß er wie ein Tier gehäutet wurde und danach nicht mehr wie ein Mensch aussieht, sondern wie eine Farbtafel aus einem Konversationslexikon.
Für einen Gerichtsmediziner gibt es bei diesem Vorgang keine besonderen Komplikationen. Es gehört zu seiner Arbeit, in bestimmten Fällen auch Menschen zu häuten, wenn dies zur Wahrheitsfindung beiträgt.
In diesem Fall war es tatsächlich so, wie sich nachträglich herausstellte. Und es war eine schauerliche Wahrheit. Zwei Nationen hätten in einen Krieg gegeneinander gestürzt werden können, was unweigerlich zum vollständigen Untergang der einen geführt hätte.
Dennoch ist dies nur eine der theoretischen Konsequenzen jener Wahrheit, die sich tatsächlich unter der Haut eines jungen Lastwagenfahrers aus Haparanda befand. Die Welt würde heute vermutlich anders aussehen, wenn man ihn nicht gehäutet hätte. Und die Tatsache, daß die Welt so aussieht wie heute, besonders in Washington, ist darauf zurückzuführen, daß man den Mann gehäutet hat.
Welche Schlußfolgerungen lassen sich daraus ziehen? Möglicherweise die, daß die Welt nicht unbedingt von Systemen gesteuert wird, die unsere Massenmedien als bis zur Trägheit stabil darstellen, die Mühlen der Demokratie und all das, sondern manchmal von reinen Zufällen. Ferner der Schluß, daß der ständige Strom von Informationen, das Nachrichtengeschnatter, mit dem wir alle leben, uns in falsche Sicherheit wiegt und die Vorstellung vermittelt, über alles Bescheid zu wissen, was geschieht, da es vor kurzem in der BBC oder bei CNN oder auch nur in Rapport zu sehen oder zu hören war.
Keiner dieser Nachrichtenkanäle erhielt je Kenntnis von den Folgen, die der Tod des jungen Lastwagenfahrers in der exotisch nördlichen Stadt Haparanda nach sich zog. Und es ist durchaus vorstellbar, daß es oft so ist, zumindest bedeutend häufiger, als man sich das bei CNN und Rapport vorstellt.
Und auch die beiden Männer, die mehr als jeder andere zu der folgenden Geschichte Anlaß gaben, ein Kriminalinspektor aus Haparanda und ein Gerichtsmediziner aus Umeå, erfuhren nie etwas von den Konsequenzen der unerwarteten Entdeckung, die sie schließlich unter der Haut des Toten machten.
1
Er lag eine Weile hellwach da und plante seine Flucht. Dann drehte er sich mit einer einzigen weichen, aber doch entschlossenen Bewegung aus dem Bett, blieb still stehen und vergewisserte sich, daß sie nichts gemerkt hatte. Ihr Atem ging gleichmäßig und ruhig.
Er schlich vorsichtig zu dem gustavianischen Stuhl, auf den er seine Kleidung geworfen hatte, nahm die Dinge an sich, die er brauchte, und war im nächsten Moment aus dem Zimmer verschwunden. Er zog die Tür ohne jedes Klicken des Schlosses zu, lehnte sich einen Augenblick gegen die Tür und atmete auf. Draußen in der Halle war es frisch, und der Schweiß kühlte seinen Körper. Er zog sich schnell an und ging die Treppe hinunter, wo er eine warme Jacke und gefütterte Stiefel aus dem Kleiderschrank holte, die Alarmanlage ausschaltete und dann in die Kälte hinaustrat.
Zu Weihnachten war tatsächlich ein wenig Schnee gekommen, nasser, matschiger Schnee, den ein spürbarer Südwind jetzt schmelzen ließ. Es wurde allmählich hell draußen. Er kam zu dem Schluß, daß
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