0015 - Der siebenarmige Tod
sagte Glenda.
John blieb stehen. »Für mich? Wer war es denn?«
»Der Chef persönlich.«
»Superintendent Powell?«
»Der.«
»Er weiß doch hoffentlich, daß ich heute meinen freien Tag habe.«
»Ich bin überhaupt nicht zu Wort gekommen. Er bat mich, Ihnen auszurichten, daß er dringend mit Ihnen reden müsse. Und dann war er schon wieder weg.«
»Okay. Dann bin ich Ihnen eben heute nicht unter die Augen gekommen«, brummte John verstimmt. Da Powell nach ihm verlangte, wackelte die Themsefahrt mit Jane, und das behagte ihm verständlicherweise gar nicht.
Glenda zuckte gleichmütig mit den Achseln. »Das«, sagte sie obenhin, »müssen Sie mit Ihrem Gewissen selbst abmachen.« Dabei wußte sie genau, wie sich Sinclair entscheiden würde.
John nickte ernst. Er drehte sich auf den Hacken herum und stürmte davon.
Powell war nicht allein in seinem Büro.
Der fast sechzigjährige Superintendent erhob sich, als John eintrat. Er war mittelgroß, leicht übergewichtig, hatte braunes dünnes Haar und trug eine Brille mit dicken Gläsern. Sein Blick allein genügte, um John erkennen zu lassen, daß mal wieder viele Dinge nicht im Lot waren. Auf Powells Tisch stand die unvermeidliche Sprudelwasserflasche, neben der John die gleichfalls unvermeidlichen Magentabletten des Chefs entdeckte.
»Es freut mich, daß Sie so schnell kommen konnten, John«, sagte der Superintendent zu seinem besten Mann.
»Sir, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, ich habe heute meinen freien Tag…«
»Ich weiß.«
»Ich habe nur mal schnell in mein Büro gesehen…«
»Ich hörte, daß Sie sich im Haus befinden, und wollte diese Gelegenheit nicht ungenützt lassen, Sie zu mir zu bitten.«
John seufzte.
»Bitte setzen Sie sich«, sagte Powell, den John gern mit einem magenkranken Pavian verglich, denn der Chef hatte zumeist einen dermaßen leidenden Gesichtsausdruck, daß viele glaubten, er würde den Kummer und den Schmerz der ganzen Menschheit in sich tragen.
John nahm widerwillig Platz.
Ihm gegenüber saß ein verstörter blonder Junge, der unentwegt an seiner Unterlippe nagte, Löcher in den Boden starrte und mit seinen zitternden Händen nichts anzufangen wußte.
»Dies ist Tony Sharmock, Oberinspektor«, sagte Powell mit ernster Miene. »Ich möchte, daß Sie sich anhören, was er zu erzählen hat. Ich bin sicher, daß Sie hinterher Ihren freien Tag schnell vergessen werden.«
John preßte die Zähne fest aufeinander. Es war immer dasselbe. Sein Privatleben wurde so klein geschrieben, daß man es auf dem Rücken eines plattgedrückten Flohs notieren konnte.
Der Superintendent wandte sich an den Jungen, nickte ihm auffordernd zu und sagte: »Tony…«
Shamrock hob den Kopf. Er blickte John Sinclair mit flatternden Augen an. John wußte es sofort, Tony brauchte kein Wort zu sagen: Der Junge mußte etwas Schreckliches erlebt haben.
Powell zog sich hinter seinen Schreibtisch zurück.
Er rasselte mit dem Pillenschächtelchen und trank anschließend Sprudelwasser.
»Ich habe einen Freund«, begann Tony leise. »Harry Podwil ist sein Name. Wir sind fast jeden Tag beisammen, obwohl das meinem Großvater, bei dem ich wohne, nicht sehr recht ist. Großvater meint, Harry hätte immer zuviel Unsinn im Kopf, und ich muß zugeben, daß er damit nicht mal so unrecht hat. Wenn man mit Harry zusammen ist, ist immer was los. Wir haben schon tolle Sachen erlebt. Doch gestern, das war zuviel für mich. Ich möchte das alles am liebsten vergessen.«
Tony Shamrock blickte auf seine zitternden Hände. Seine Stimme hatte versagt. Er brauchte eine Weile, um sich wieder zu sammeln. John ließ ihm Zeit.
»Wir«, krächzte Tony schließlich, »wir hätten dort nicht hingehen dürfen.«
»Wo seid ihr gewesen?« fragte John.
»Es gibt da am nördlichen Stadtrand eine aufgelassene Kirche. Man hat eine neue gebaut, und die alte wird wohl irgendwann abgerissen werden… Harry Podwil hat erfahren, daß sich eine Satanssekte in dieser Kirche eingenistet hat. Er kam mit der Idee, diese Leute mal zu beobachten, wenn sie eine schwarze Messe abhalten…«
»Das habt ihr gestern nacht getan?«
»Ja«, sagte Tony Shamrock tonlos. »Wir hätten es nicht tun sollen, es war grauenhaft.«
»Was ist geschehen?« fragte John gespannt. Was der Junge da erzählte, interessierte ihn. Außerdem fiel die Angelegenheit in seinen Aufgabenbereich bei Scotland Yard.
»Diese Leute beten einen Dämon an, der sich Lemuri nennt«, berichtete Tony weiter. Seine
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