002 - Der Hexenmeister
waren dann aber zu der Überzeugung gelangt, dass wir mehr erreichten, wenn wir einfach in das Haus eindrangen.
Das ging leichter, als wir erwartet hatten. Das Haus war eine große, geschmackvolle Villa und umgeben von einem gepflegten Park. An das Haus war eine Garage angebaut, in die wir im Schutz der Dunkelheit ohne Mühe eindringen konnten. Von dort aus gelangten wir ins Haus.
Lauras Zimmer hatten wir schnell gefunden. Es war mit erlesenem Geschmack eingerichtet. Ich war tief bewegt, als ich die Umgebung sah, in der sie gelebt hatte. Auf der Kommode stand das große Foto eines Ehepaares. Es waren vermutlich ihre Eltern. Der Mann auf dem Bild hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Meister.
Schon bald entdeckten wir, was wir suchten. In einem antiken Sekretär fanden wir außer zahlreichen Briefen, die Laura von ihren Eltern aus Indien erhalten hatte, ein in rotes Leder gebundenes Tagebuch. Nachdem wir einen Blick hineingeworfen hatten, wobei wir eine ganz erstaunliche Eintragung entdeckten, nahmen wir das Buch an uns. Auch alle anderen Papiere und die Briefe steckten wir ein.
Ich habe Lauras Tagebuch mindestens zwanzigmal gelesen und kann die Stellen, die sich auf unser unheimliches Erlebnis bezogen, inzwischen auswendig.
Es ist furchtbar, ganz grauenhaft. Ich kann es noch immer nicht fassen. Mama und Papa sind bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Ich habe es aus dem Radio erfahren. Ich bin ohnmächtig geworden. Es ist mir unmöglich, ohne sie weiterzuleben. Das Leben ohne sie hat keinen Sinn mehr für mich. Doch ich muss vorher noch den Auftrag erfüllen, den sie mir gegeben haben.
Wie dieser Auftrag lautete, erfuhren wir aus einem Brief ihres Vaters, den dieser ihr kurze Zeit, ehe er und seine Frau aus Indien abreisten, geschrieben hatte. Darin hieß es:
Du weißt ja, Laura, warum wir diese weite Reise unternommen haben. Wir wollten den ungewöhnlichen Mann Wiedersehen, der bei uns zu Gast war, als wir vor vier Jahren in Florenz lebten. Ich habe Dir nie genau gesagt, wer er war, aber jetzt sollst Du es wissen. Du musst es sogar wissen. Dieser Mann – das wird Dir unglaublich erscheinen – lebt bereits seit mehr als fünfhundert Jahren. Er heißt Nicolas Flamel.
Du weißt doch, dass einer unserer Vorfahren, Michel Dosseda, der von Italien nach Paris gegangen war, Anfang des 15. Jahrhunderts als Hexenmeister verbrannt wurde. Wir haben diese Reise gemacht, um Nicolas Flamel aufzusuchen, der zur Zeit als Einsiedler hier im indischen Dschungel lebt. Er konnte nicht zu uns kommen, weil er in regelmäßigen Abständen mehrere Monate hintereinander schlafen muss, um seine Unsterblichkeit nicht zu verlieren.
Nicolas Flamel hat Michel Dosseda persönlich gekannt. Er weiß, dass unser Ahnherr eine ganz ungewöhnliche Entdeckung gemacht hatte, die das Leben der Menschen von Grund auf hätte verändern können. Flamel hat Michel nicht retten können, als dieser wegen Zauberei angeklagt und hingerichtet wurde. Michel starb am 14. Mai 1408 auf dem Scheiterhaufen. Einer seiner Schüler, Georges Lénand, den man kurz darauf, am 3. Juni, verhaftete, wurde ebenfalls verbrannt, und zwar am 6. Juni. Wir sind die Nachkommen eines Neffen von Michel, der damals in Italien lebte und erst später nach Frankreich übersiedelte.
Flamel ist der Ansicht, dass der Tod unseres Ahnen eine Katastrophe für die gesamte Menschheit war. Auch heute, im 20. Jahrhundert, könnte man aus seiner Entdeckung größten Nutzen für alle Länder ziehen, die noch den Hunger kennen, und auch für die reicheren Nationen. Flamel hat von damals her noch eine der Bleifiguren in seinem Besitz, deren sich Michel für seine Experimente bediente. Es ist ihm zwar nicht gelungen herauszufinden, wie man diese Figur benutzen muss, um die gewünschte Wirkung zu erzielen, aber er hat festgestellt, dass sich mit ihrer Hilfe ein Mensch von heute in die Vergangenheit zurückversetzen kann. Der Betreffende findet sich dann im Körper eines direkten Vorfahren wieder. Auch die Rückkehr in die Gegenwart ist möglich.
Flamel kann sich auf Grund seiner Unsterblichkeit nicht selbst diesem Experiment unterziehen. Er hat mich gebeten, es an seiner Stelle zu versuchen. Ich soll in die Vergangenheit zurückkehren, genauer gesagt in die Zeit, in der Michel Dosseda lebte, und dort versuchen, die Entwicklung zu ändern. Ich soll dafür sorgen, dass Michel nicht als Hexenmeister angeklagt wird, damit seine umwälzende Erfindung nicht verloren geht.
Meine liebe
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