0022 - Der Todesfluß
Fälle hatten die beiden Freunde gemeinsam bearbeitet – allerdings aus unterschiedlichen Gesichtspunkten. Bill gehörte zu jener Kategorie von Wissenschaftlern, die selbst die kompliziertesten und rätselhaftesten Zusammenhänge stets mit nüchterner Logik zu erklären versuchen. Professor Zamorras Forschungen lagen hingegen im Bereich des Übersinnlichen. Schon seit Jahren widmete er sich mit großem Erfolg der Parapsychologie, und er zählte inzwischen auf diesem Gebiet zu den international bedeutendsten Persönlichkeiten.
Seit geraumer Zeit lebte Zamorra nun schon in Frankreich. Nach dem Tode seines Onkel, Louis de Montagne, hatte Zamorra dessen Schloß im romantischen Tal der Loire geerbt – Château Montagne war zu seiner neuen Heimat geworden. Seine Mutter hatte dort gelebt, hatte das Château aber bereits in ihrer Jugend verlassen. Zamorra war in New York aufgewachsen. Sein Vater war ein spanischer Grande gewesen, dessen Urahn der Sage nach entscheidend in eine Schlacht gegen die Mauren eingegriffen haben sollte.
Zamorra hatte Château Montagne immer geliebt, obwohl er nicht dort gelebt hatte. Nach der Erbschaft hatte es ihm jedoch widerstrebt, das Schloß zu verkaufen oder unter der Obhut Fremder verfallen zu lassen. [1]
Den Professor faszinierte die Möglichkeit, sich in die Einsamkeit, in die versponnene Abgeschiedenheit einer mittelalterlichen Welt zurückzuziehen. Der Lärm und die Hetze New Yorks erschienen ihm dort unendlich weit entfernt. Die Wohnung in den Staaten hatte er behalten, schon aus beruflichen Gründen. Aber eben dieser Beruf, vor allem seine Forschungen auf dem Gebiet der Parapsychologie, ließen sich nicht nur durch Anspannung, Arbeit und Streß bewältigen, sondern erforderten Ruhe, Besinnung, Konzentration. Dafür bot Château Montagne im Grunde ideale Voraussetzungen.
»Es handelt sich in der Tat um einen ungewöhnlichen Fall«, wandte sich Zamorra an seinen Freund. »Soranges liegt an der Rhône. Ein kleines Dorf, dessen Einwohner fast ausschließlich von der Landwirtschaft leben. Der Fluß hat eine besondere Bedeutung für sie.«
»Die Kinder können im Sommer darin baden«, flachste Bill.
»Sicher, sofern das bei der heutigen Verschmutzung durch Abwässer noch möglich ist.« Zamorra zuckte die Achseln. »Nein, das Besondere liegt in der Aufteilung der Ländereien, die den Bauern von Soranges gehören. Und zwar befindet sich der überwiegende Teil der Felder und Weiden am Ostufer der Rhône. Das Dorf liegt dagegen am Westufer.«
»Verdammt unpraktisch.«
»Die Aufteilung des Landes beruht auf geschichtlichen Gründen«, fuhr Zamorra fort, »eine Flurbereinigung nach modernsten Gesichtspunkten konnte bislang nicht durchgeführt werden. Jedenfalls müssen die Bauern eine Fähre benutzen, um täglich ihre Felder bestellen zu können. Das ist schon seit Jahrhunderten so.«
»Warum bauen sie keine Brücke? Sind sie noch nie auf den Gedanken gekommen?«
»Bestimmt. Aber Soranges liegt weit ab von größeren Städten, und es gibt keine bedeutenden Durchgangsstraßen. Baugenehmigungen für Brücken werden aber meines Wissens nur erteilt, wenn ein allgemeines öffentliches Interesse besteht.«
»Aha. Und eine Handvoll Provinzler stellen kein öffentliches Interesse dar.«
»Aus der Sicht der Behörden vermutlich nicht.«
»Und was interessiert dich an diesen bäuerlichen Problemen? Wie bist du überhaupt darauf gestoßen?«
»Ein Einwohner des Dorfes hat mir geschrieben. Er hat vor kurzem eine Veröffentlichung von mir gelesen und war dadurch auf meinen Namen gestoßen. Das Ganze dreht sich um den Fährmann von Soranges. Dieser Beruf wird dort seit Generationen von einer einzigen Familie ausgeübt, also vom Vater auf den Sohn vererbt. Jetzt ist diese Linie beendet. Der letzte Fährmann hat keine Nachkommen.«
»Hat er sich pensionieren lassen?«
»Nein. Er lag auf dem Sterbebett, als der Brief geschrieben wurde. Das Schlimme ist nun, daß sich niemand im Dorf darum reißt, Fährmann zu werden. Es soll geheimnisvolle Zusammenhänge geben. Die bisherige Fährmannsfamilie soll angeblich mit übernatürlichen Mächten im Bunde gestanden haben. Und jeder, der es wagt, die Nachfolge anzutreten, muß gewisse Voraussetzungen erfüllen. Nä- heres steht darüber nicht in dem Brief. Ich werde es herausfinden.«
Bill Fleming schüttelte zweifelnd den Kopf.
»Geschichtlich ist das sicherlich hochinteressant. Aber was deine Seite betrifft… wahrscheinlich handelt es sich um
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