0022 - Der Todesfluß
Von armdicken Drahtseilen gehalten, wurde die Fähre durch die Strömung langsam zur Flußmitte geschoben. Jäh kam der pontonähnliche Rumpf mit den eisernen Geländern zum Stillstand – so, als sei plötzlich ein unsichtbarer Anker geworfen worden. Der Fährmann verließ seinen gewohnten Platz bei den Steuerhebeln. Ruhig, das lederhäutige Gesicht in den Wind gerichtet, ging er zur vorderen Rampe. Heftige Böen kamen auf, schluckten das Poltern seiner Schritte.
Dann blieb der alte Mann stehen. Seine dunkle Arbeitskleidung ließ ihn vor dem Nachthimmel konturenlos erscheinen.
Das Gurgeln der Fluten schwoll an, formte sich zu einer menschlich klingenden Stimme, die hohl und dumpf über den Fluß wehte.
»Es ist an der Zeit, Fährmann! Deine Uhr ist abgelaufen. Du hast unseren Befehl vernommen…«
»Ja, Herr«, sagte der alte Mann leise. Er senkte den Kopf.
Im düsteren Wasser vor der Fähre erschien unvermittelt ein Lichtpunkt, der sich rasch vergrößerte. Schon nach wenigen Sekunden war die Fähre von gleißender Helligkeit umgeben, schien in flüssigem Silber zu schwimmen. Das Fauchen der Böen brach ab, und auch das Rauschen der Wassermassen war nicht mehr zu hören.
Eine fast zauberhafte Stille kehrte ein.
Wieder erscholl die Stimme, doch klarer jetzt, ohne das dumpfe Gurgeln der Wellen.
»Du weißt, daß du zu uns kommen mußt, Fährmann?«
»Ja, Herr, ich weiß es.«
Schleier stiegen aus der gleißenden Helligkeit auf, bildeten Umrisse, die sich zu einer Silhouette entwickelten. Die Gestalt schimmerte silbrig hell wie die Fluten, aus denen sie gekommen war. Es war eine männliche Gestalt, mit einem Kettenhemd über den mächtigen Schultern und einem Ritterhelm, dessen rechteckige Augenschlitze schwarz und leer waren. In den Fäusten, die mit einer silbernen Haut überzogen waren, trug das Wesen ein Schwert. Die Spitze der Klinge ragte bis in die Fluten hinab.
Der Ritter hob gebieterisch die Rechte. Weitere Wesen von gleichem Aussehen materialisierten sich, glitten auf den alten Mann zu und nahmen ihn in ihre Mitte.
Er ließ es willenlos geschehen, ebenso, wie er ihrem Ruf gefolgt war. Und er spürte keine Kälte, als sie ihn in die Fluten der Rhône hinabzogen.
Es war das Ende für den Fährmann von Soranges. Und dennoch empfand er es nicht als Ende. Sein ganzes Leben lang hatte er gewußt, daß er den Mächten der Finsternis seinen Tribut zahlen mußte. Er gab ihnen seinen Körper und seine Seele, denn er hatte nichts anderes, das er ihnen bieten konnte.
Über den silbrig schimmernden Wesen, die den alten Mann mitgenommen hatten, schmolz die geheimnisvolle Helligkeit des Wassers zusammen. Zuletzt blieb ein Lichtpunkt, der allmählich in der Tiefe versank.
Wieder begann der Wind zu heulen. Von neuem schmatzten die Kronen flacher Wellen gegen den geteerten Rumpf der Fähre. Dann glitt das plumpe Wasserfahrzeug zurück zu jenem Ufer, an dem das Dorf lag. Rumpelnd schob sich die Fähre auf die schräge, gepflasterte Böschung.
Von unsichtbaren Händen bewegt, schlängelten sich die beiden Taue über die Holzplanken an Land, wo sie sich um die stählernen Poller wanden.
Nichts erinnerte mehr daran, daß der Alte vom Fluß zu seiner letzten Fahrt angetreten war.
***
Professor Zamorra stieg aus dem Schnellzug, der ihn von Château Montagne nach Paris gebracht hatte. Sein einziges Gepäck bestand aus einem eleganten schwarzen Lederkoffer im handlichen Airlines-Format.
Es war Mittagszeit. Die Bahnsteige des Garde du Nord waren zwar belebt, doch es herrschte nicht jenes Gedränge wie abends nach Geschäftsschluß. Aus trichterförmigen grauen Lautsprechern betete eine temperamentlose Ansagerinnenstimme die Ankunftszeiten von verspäteten Zügen herunter. Eine dieselbetriebene Rangierlok schob mit dröhnenden Motoren ein halbes Dutzend leerer Personenwagen aus der gigantischen Bahnhofshalle. Im Freien schimmerten die Oberflächen eines unübersehbaren Gewirrs von Schienen unter der herbstlichen Sonne.
Professor Zamorra steuerte auf die breite Steintreppe zu, die von den Bahnsteigen zur Halle führten, in der sich Läden und Restaurants befanden. Zamorra trug einen maßgeschneiderten dunkelgrauen Anzug mit dezentem Streifenmuster. Er war ein Mann in den besten Jahren – groß, schlank und dunkelhaarig. Seine Bewegungen strahlten jene Energie und Selbstsicherheit aus, die ihm geistige Überlegenheit und körperliche Fitneß vermittelten. In seinem schmalen, markant geschnittenen Gesicht standen
Weitere Kostenlose Bücher