0023 - Bei Vollmond kommt das Monster
»Quinto, lass uns laufen. Es – es ist mir nicht mehr geheuer!«
Alles weitere spielte sich mit so rasender Geschwindigkeit ab, dass sie kaum zu einer Reaktion kamen, ehe das Unheil nach ihnen griff.
Plötzlich schwebte ein summender Ton in der Luft. Dann schlug das Geräusch in ein Kichern um – und das Wasser des Baches begann für einen Augenblick rot zu glühen. Der Moment reichte aus, um die Fratze des Scheusals auszuleuchten, das am gegenüberliegenden Ufer des Baches stand und sie anglotzte. Es duckte sich und breitete die Arme aus.
»Fort!«, brüllte Quinto Rinaldi. »Nimm die Beine in die Hand, Patrizia, und renne! Das… das ist ein Monster!«
Patrizia Viani hörte sich schreien. Erst als das rote Licht versiegte, löste sie sich aus ihrer Erstarrung und warf sich herum, um den Hang hinaufzustürmen, den sie kurz zuvor bewältigt hatten. Hinter ihr gab es klatschende Laute. Das Monster war in den Bach gesprungen, um ihn zu durchqueren und ihnen nachzulaufen. Zweimal rutschte sie aus und kämpfte sich jammernd wieder hoch – einmal drehte sie sich um und sah, wie die ungeschlachte Gestalt des Ungeheuers sich auf Rinaldi warf. Er ruderte mit den Armen und stieß gellende Rufe aus.
Doch die Panik in Patrizia Viani war größer als die Bereitschaft, dem Liebhaber zu Hilfe zu eilen. Halb verrückt vor Angst stürmte sie durch den Wald. Sie presste die Hände gegen die Ohren, damit sie das Schreien des Mannes und das wilde Grölen des Monsters nicht mehr zu hören brauchte.
Quinto Rinaldi hatte jeglichen Mut sinken lassen. Aber die Verzweiflung schenkte ihm die Kraft, gegen das Monster zu kämpfen und sich nicht einfach in sein Schicksal zu ergeben.
Es hatte ihn zu Boden geworfen, aber er trat nach dem grässlichen Schädel. Für eine oder zwei Sekunden zog es sich zurück.
Rinaldi begann zu kriechen und sich aufzurappeln.
Das Monster stieß bellende Laute aus. Gewandt wie ein großes Raubtier kam es wieder auf die Beine und hüpfte hinter dem Fliehenden her. Es kriegte ihn zu fassen, weil es sich ungemein schnell bewegte, flinker als jeder Mann.
Diesmal landete Rinaldi auf dem Rücken. Angewidert starrte er in die Fratze des Monsters. Glühende, rote Augen gafften auf ihn nieder, Krallenhände schlossen sich um seine Kehle. Da Rinaldis Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er auch die eiternde Haut und das Maul des Monsters ausmachen.
Als es sich aufrichtete und einen gelben Schleim auf ihn ausspuckte, kreischte er vor Abscheu und Todesangst.
Das Monster kicherte. Dann aber schlug seine Stimme um, und es sprach mit tiefem, heiserem Organ. Es war die Alte, die aus ihm redete: »Rinaldi, du bist mein, es ist um dich geschehen. Nimm die Rache von Rosa Terinca entgegen.«
»Nein«, ächzte er, »ich… ich bin unschuldig.«
»Schweig, du Narr! Mich täuschst du nicht.«
»Lass mich in Ruhe«, flehte der Mann, »ich gebe dir alles, was du willst. Bringe die anderen um – ich zeige dir, wo sie sind; willst du? Mach sie fertig: Patrizia, Vito, Sirio, Gaetano und Angelo. Angelo Silla!« Rinaldi war es ganz egal, was er in diesem Moment sagte; er hatte nur den einen Wunsch, den Pranken dieses Schreckenswesens zu entgehen.
Silla – bei diesem Namen zauderte das Monster etwas. Und Rinaldi bemerkte es. Immer wieder brüllte er: »Silla, Silla, Silla…«
In einem günstigen Augenblick zog Quinto Rinaldi beide Beine an, drehte sich und schüttelte das Monster ab. Schreiend sprang er auf und rannte weg. Er wagte es nicht, sich nach dem Monster umzusehen. Er wusste genau, dass allein der Anblick dieses Wesens ihm den Mut rauben würde, den Hang hoch zu hasten und zur Hütte zu hetzen. Der Weg kam ihm unendlich weit vor.
Das Monster heulte und grunzte mit seinen beiden Stimmen. Seine Wut war größer geworden, es trampelte hinter dem verzweifelten Mann her, bereit, ihn diesmal zu greifen und sofort zu töten. Ungewollt räumte es ihm eine letzte Gnadenfrist ein, als es auf dem Laub am Hang ausglitt und ein Stück nach unten schlitterte. Dieser Vorfall brachte es restlos in blinden Zorn. Schnaubend verdoppelte es seine Anstrengungen.
Rinaldi wusste genau, dass er seine letzte Chance hatte. Irgendwie hoffte er, dass Patrizia es bereits geschafft hatte und die drei Freunde aus der Jagdhütte verständigt hatte. Aber er wartete vergebens darauf, dass de Angelis, Borgo und Giannoni ihm entgegengelaufen kamen.
Er geriet auf den Weg und wusste, dass er die direkte Richtung zur Hütte verfehlt
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