Ritus
I.
KAPITEL
18. April 1764, nordöstlich von Langogne, westliche Ausläufer des Vivarais-Gebirges, Südfrankreich
Mit einer monotonen Melodie gluckerte der Bach über die runden Steine. Die Abendsonne fiel durch die wenigen lichten Stellen des dichten Blätterwerks der Bäume und erzeugte goldenrote Flecken auf dem schattigen Waldboden. Insekten waren auf der Suche nach Nahrung und summten durch die warme Luft. Der verführerische Duft leitete sie. Es roch nach Frühling, nach neuem Leben. Und nach Verwesung. Die Fliegen schwirrten aufgeregt zu dem dicken unteren Ast einer mächtigen Buche, an dem ein stinkender Schafskadaver zwei Schritte über der Erde an einer Kette hing. Unmittelbar darunter baumelte eine höchst seltsame, tote Kreatur.
»So etwas … habe ich noch niemals gesehen.« Jean Chastel, ein Mann Mitte fünfzig und von Kindesbeinen an Wildhüter, trat vorsichtig näher und stieß den Fang mit der Mündung seiner doppelläufigen Muskete an. In seinem glatt rasierten, kantigen Gesicht standen Entsetzen, Unglaube und höchste Aufmerksamkeit. Das merkwürdige Tier, das an der Wolfsangel gefangen hing, kannte er nur aus Erzählungen und von den Flugblättern fahrender Schauspielertruppen. Diese Erzählungen und die dazugehörigen Zeichnungen waren alles andere als beruhigend.
Das wolfsartige Tier rührte sich nicht.
Jean meinte, einen schwarzen Streifen auf dem Rücken zu erkennen, der sich vom Kopf bis zum dünnen Schwanz zog. Das Fell selbst war dunkel und ging ins Rötliche über. Die Klauen, doppelt so groß wie eine Frauenhand, beeindruckten ihn fast am meisten. Wenn da nicht die Reißzähne gewesen wären …
Es hatte sich den Köder durch einen beherzten Sprung holen wollen. Der im verrottenden Schaf verborgene Fleischerhaken war ihm zum Verhängnis geworden: Das spitze Metallende ragte aus der blutverkrusteten Schnauze heraus und bog den großen Kopf nach oben. Dadurch hatten sich die gewaltigen Kiefer, die einen Oberschenkelknochen durchbeißen würden, geöffnet und die Fangzähne von der Länge eines Mittelfingers preisgegeben.
Es raschelte, als sein jüngerer Sohn Antoine neben ihn trat. »Ein Männchen«, sagte er, als sähe er eine derartige Kreatur jeden Tag. Trotz seiner zwanzig Jahre wirkte er noch sehr jung, und sein kurzer, dunkler Bart änderte daran nichts. Im Gegensatz zu seinem Vater zeigte er sich von der Entdeckung unbeeindruckt. Er hatte nicht einmal Angst. Sein Geschäftssinn erkannte sogleich die Vorzüge. Er zückte grinsend seinen Jagddolch und deutete auf die Geschlechtsteile des nun sachte hin und her pendelnden Wesens. »Seine Eier werden uns beim Arzneihändler einen Haufen Geld bringen.«
Jean, dem die Sache noch immer nicht geheuer schien, packte ihn am Arm und hielt ihn zurück. Der kurze, weiße Zopf hüpfte auf dem Rücken. »Bleib zurück!« Er wartete auf ein Zucken des Kadavers, das auf Leben hindeutete. Als es ausblieb, öffnete er die Hand und gab Antoine frei. »Lass sie ihm. Das sollen sich Gelehrte anschauen, bevor wir es auseinander schneiden.«
Das Knistern von trockenem Laub verriet das Nahen eines weiteren Mannes. Die Jäger der Familie Chastel waren vollständig versammelt. »Beim Allmächtigen!«, entfuhr es dem älteren Sohn Pierre. Er glich seinem Vater sehr, nicht nur äußerlich. Verstört betrachtete er das Tier und bekreuzigte sich. »Dieses Vieh … stinkt infernalisch und ist … hässlich.« Er betrachtete die starken Klauen, den großen Kopf, die gewaltigen Kiefer, das buschige Schwanzende und die kleinen, spitzen Ohren eingehend. Sein sonst so freundliches Gesicht verzog sich voller Abscheu. »Was soll das sein? Ein Wolf aus der Hölle?«
Jeans braune Augen glitten über das, was sie seit vier Tagen auf Bitten des befreundeten Wildhüters DeBeaufort im Vivarais gejagt hatten. Eigentlich stammten er und seine Söhne aus dem benachbarten Gevaudan-Gebiet. Nach einundzwanzig getöteten Schafen, zwei gerissenen Kühen und einem toten Hirten hatten die Bauern gedroht, den guten Bekannten aus seinem Amt zu werfen. Die Chastels waren daraufhin ins östliche Südfrankreich gereist, um ihm beizustehen.
Nicht zuletzt verstand Jean es auch als Vorsorge. Fand der gewiss tollwütige Wolf hier nichts mehr, käme er ins Gevaudan. Nur ein toter Wolf war ein guter Wolf. Wenn es sich überhaupt um einen handelte. Was er gerade betrachtete, hatte nichts mit einem der Graupelze gemein, die er kannte.
»Loup-Garou«, gab Antoine leise lachend die
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