0026 - Die Braut des Henkers
muss völlig außer sich gewesen sein. Man konnte ihn nur mit Mühe davon abhalten, eine Dummheit zu begehen. Die Leute beruhigten ihn, und man ging wieder zurück ins Bett, um seinen Schlaf fortzusetzen. Doch am nächsten Morgen machten die Fischer einen grausigen Fund. Als sie hinunter zum Strand gingen, fanden sie dort die kopflose Leiche des Vermissten. Der Kopf lag einige Meter entfernt im Sand. Die Kleider waren nass, demnach war die Leiche angeschwemmt worden. Du wirst jetzt vielleicht sagen, dass der arme Teufel auf offener See von einem anderen Boot überfallen worden ist. Mag schon sein. Ist auch sogar wahrscheinlich, denn der Sohn des Alten pflegte von Zeit zu Zeit recht einträgliche Schmuggeltouren zu unternehmen. Das ist für die Leute dort oben schon fast ein Sport, musst du wissen.«
Zamorra nickte unwillkürlich.
»Genau, Pierre, das wollte ich dir gerade entgegenhalten. Was habe ich nun mit dieser Angelegenheit zu tun?«
»Eine ganze Menge, wie ich glaube. Ein Reporter hat nämlich festgestellt, dass auf diese Art schon mehrere Leute aus dem Dorf ums Leben gekommen sind. Zwar nicht immer mit einem Schiff, jedoch stets hat man die Leichen kopflos am Strand gefunden. Mal lagen die Schädel daneben, mal nicht und manchmal mussten sie sogar Tage später angeschwemmt worden sein. Und der Priester des Dorfes beschwört, dass jedes Mal, wenn etwas Derartiges geschah, ein altes Henkerbeil, das in seiner Kirche hängt, eine blutige Schneide hatte. Auch in der letzten Woche. Es war nur ein Zufall, dass wir hier im Institut davon Wind bekamen. Einer unserer Studenten hält sich gerade im Zuge der Arbeiten zu seiner Promotion in England auf, um alte Archive zu durchstöbern. Er hat die ganze Sache hierher gemeldet und meinte, dass das für uns von Interesse sein könnte. Ich kenne den Knaben. Er gehört in meinen Übungen zu den Stars und steckt den ganzen Rest seiner Kommilitonen in die Tasche. Ein Spinner ist er mit Sicherheit nicht.«
»Gut, gut.« Zamorra wurde schon leicht ungeduldig. »Warum erzählst du mir das alles? Was habe ich damit zu schaffen? Wenn du etwas von mir willst, dann sag es bitte. Ansonsten lass uns über etwas anderes reden. Wir haben uns schließlich schon lange nicht mehr gesehen.«
»Ja doch, Zamorra, altes Haus. Sei nicht so grantig. Ich wollte dich wirklich um etwas bitten. Könntest du vielleicht die Zeit erübrigen und dir die Sache einmal an Ort und Stelle anschauen? Es müsste natürlich auf deine Rechnung geschehen. Einen offiziellen Auftrag kann ich dir nicht geben. Du weißt ja, was Bürokraten für Menschen sind. Und am schlimmsten sind sie, wenn man mit ihnen auf Gebieten zu tun hat, auf denen sie keine Ahnung haben. Ehe ich da eine Genehmigung für einen Staatsauftrag herausgeleiert habe, ist die Sache entweder schon in Vergessenheit geraten – oder der geheimnisvolle Geist, so will ich ihn einmal nennen – hat erneut zugeschlagen, im wahrsten Sinne des Wortes. Jetzt gib mir ja keinen Korb und behaupte, du hättest keine Zeit. Privatgelehrte wie du haben Zeit im Überfluss. Und dass du sie zu nutzen weißt, das steht ja manchmal sogar in den Zeitungen.«
Zamorra dachte nach. Die Angelegenheit klang interessant. Sollte er zusagen? Er schaute seine Assistentin fragend an. Sie erwiderte seinen Blick und nickte zögernd.
Sie nahm die Hörmuschel vom Ohr und flüsterte: »Sagen Sie ja, Chef. Eine Woche haben wir Zeit. Im Augenblick steht nichts Eiliges an. Und die zwei Termine, die Sie übermorgen haben, die kann man verschieben.«
Zamorra lächelte. Wie hatte Nicole Duval sich geändert. Früher hatte sie alles, womit er sich herumschlug, Dämonen, Teufel, Geister, für Unsinn und Humbug gehalten. Bis sie damals auf der Durchreise in einem kleinen Dorf am Gardasee auf Werwölfe gestoßen waren. [1] Sie hatte sich bei diesem Abenteuer tapfer gehalten.
Und jetzt war auch sie zu einer überzeugten Jägerin böser Dämonen geworden.
»Okay, Pierre. Ich schau mir das mal an. Beschreib mir noch einmal genau, wo das alles passiert ist.«
Pierre Cousteau kam dieser Bitte nach. Zamorra machte sich eifrig Notizen. Dann wechselten die beiden Männer noch einige persönliche Worte, versprachen, sich in Kürze einmal zu treffen, und legten auf.
Nicole Duval ließ die Hörmuschel sinken. In ihren Augen blitzte es unternehmungslustig.
Zamorra konnte sich das Grinsen nicht verkneifen.
»Nun machen Sie nicht so ein Gesicht wie ein Clown mit Magenschmerzen. Sorgen Sie lieber
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