0043 - Die Geister-Lady
Semjon erfahren, dass es jemanden gab, der ihm helfen wollte. Uneigennützig obendrein, nur um zwei Menschen zusammenzubringen, deren innige Liebe über alle Grenzen hinweg Bestand hatte.
Zamorras Arm war noch auf dem Weg zum Griff des Wagenschlages, da hielt er plötzlich verwirrt inne. Eine zweite Gestalt lief auf das Spukhaus zu. Geduckt, kräftige Beine schnellten einen elastischen Körper vorwärts.
Obwohl die Dunkelheit zu perfekt war, um einen Menschen genau erkennen zu können, glaubte Zamorra doch zu wissen, um wen es sich da handelte.
Oberst Kyrill Vitali. Der Bluthund des KGB. Er hatte endlich die richtige Fährte gefunden. Und er eilte nun in das Haus, um sich sein armes Opfer zu holen.
Es war keine Zeit zu verlieren. Zamorra schleuderte den Wagenschlag auf. Mit vibrierenden Nerven sprang er aus dem Moskwitsch.
Semjon Muratow würde sich der Verhaftung gewiss widersetzen.
Möglicherweise kam es zu einem Handgemenge zwischen ihm und dem KGB-Oberst. Und schließlich würde Vitali zur Waffe greifen, wenn er erkannte, dass die Gefahr bestand, dass er unterliegen könnte.
Aufgeregt drückte Zamorra die Tür zu. Dann lief er mit weiten Sätzen zum Dagorski-Haus. Muratow und Vitali hatten es durch eine Hintertür betreten. Darauf lief Zamorra nun ebenfalls zu. Er bemühte sich, so lautlos wie möglich zu sein. Ab und zu zerbrach ein hart gefrorener Erdbrocken unter seinen Pelzstiefeln, das knirschte dann, und Zamorra zerbiss einen ärgerlichen Fluch zwischen den Zähnen.
Atemlos erreichte er die schmale Tür. Semjon Muratow hatte während seines ersten Aufenthalts im Haus den Schlüssel dazu gefunden, deshalb war er nicht wieder durch das Kellerfenster eingestiegen.
Vorsichtig öffnete Zamorra die Tür. Der Wind wollte sie ihm aus der Hand reißen, deshalb fasste er auch sofort mit der Linken zu, um es zu verhindern.
Mit dem nächsten Schritt war Zamorra im Haus. Er schloss die Tür hinter sich geräuschlos und blieb stehen, um zu horchen. Stimmen.
Muratow und Vitali. Zwei größere Gegensätze gab es nicht. Endlich waren sie aufeinander getroffen. Muratow, das Feuer… und Vitali, das Wasser. Ein grausames Schicksal hatte die beiden hier in diesem Haus zusammengeführt. Der letzte Akt in diesem Drama hatte somit begonnen.
Die beiden Männer standen einander in einem kleinen Wohnraum gegenüber. Kyrill Vitali hatte Licht gemacht. Semjon Muratow starrte ihn furchtsam an. Er trug nach wie vor die Kleider von Oleg Dagorski. Sein jungenhaftes Gesicht zuckte nervös. Die Hände, die immer noch in den dicken Handschuhen steckten, hatte er gehoben, weil Vitali ihn mit seiner Pistole bedrohte.
Beide atmeten schnell. Das kam vom Laufen.
In Vitalis eiskalten Augen funkelte die unverhohlene Freude über den Erfolg. Sein Lachen ließ dicke Hagelschloßen durch Semjons Adern rinnen.
»Habe ich dich endlich!«, knurrte der KGB-Oberst mit gesenkten Lidern. »Ich gebe zu, es war anstrengend, dich zu suchen. Ein Spukhaus hast du dir zum Versteck gewählt. Sehr klug von dir. Anderseits aber hättest du damit rechnen müssen, dass auch ich auf diese Idee kommen könnte. Wir Russen sind doch ein Volk von guten Schachspielern, Semjon Muratow. Und was lernt ein guter Schachspieler sofort? Er lernt, auch die Züge seines Gegners zu überdenken. Das hast du versäumt. Ein Fehler, der dir nun zum Verhängnis wird.«
»Was haben Sie mit mir vor?«, fragte der Junge mit heiserer Stimme.
»Ich werde dich mitnehmen.«
»Und dann?«
»Dann übergebe ich dich der Miliz… Die wird dich erst einmal in Gewahrsam nehmen. Dann wirst du vor Gericht gestellt, man wird dich zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilen, du wirst im Bleibergwerk verschwinden und nie mehr wieder auftauchen. Es ist der Weg aller politischen Feinde, Semjon Muratow!«
Der Junge war den Tränen nahe. »Ich wollte ausreisen. Ich habe um eine Genehmigung angesucht. Man hat sie mir verwehrt! Warum? Warum hat man mich nicht nach England gehen lassen?«
»Du bist Ingenieur, Semjon Muratow. Russland braucht Leute wie dich. Aber du hast unserem lieben Mütterchen einen Tritt in den Hintern gegeben, statt ihm deine Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Du weißt, wie wir darüber denken… Was hattest du vor? Wolltest du in den Untergrund gehen? Wir hätten dich früher oder spä- ter doch geschnappt. Es hatte also gar keinen Sinn zu fliehen, sich in der Taiga zu verkriechen … Das alles konnte deine Verhaftung nicht aufheben, wie du siehst, sondern nur
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