0043 - Die Geister-Lady
anders herum… Es war, schlicht gesagt, zum Aus- der-Haut- fahren!
Ärgerlich machte Zamorra auf den Absätzen kehrt und verließ das Gebäude.
***
»Genosse Oberst!«, rief der mit der wulstigen Narbe aus. »Genosse Oberst! Ist Ihnen nicht gut?«
Kyrill Vitali erwachte aus seiner unerklärlichen Trance. Plötzlich vernahm er die Stimmen seiner Männer wieder ganz klar und akzentuiert. Er vermochte auch wieder auf die Straße hinunterzusehen, bemerkte, dass er seine Finger in den Vorhang gekrallt hatte, und löste den verkrampften Griff. Mit nervös flatternden Augen wandte er sich schnell um. Die Übelkeit war wie weggeblasen. Er fühlte sich wohl. Nur die Schweißperlen auf seiner Stirn waren noch vorhanden. Rasch holte er sein Taschentuch hervor und wischte sie mit einer unwilligen Geste fort.
Seine beiden Männer saßen nicht mehr auf dem Sofa. Mit sorgenvollen Mienen standen sie mitten im Raum. Er schaute sie verwundert an.
»Weshalb sollte mir nicht gut sein, Genossen?«
»Sie… Sie haben vorhin so furchtbar gestöhnt …«, sagte der mit den Hasenzähnen beunruhigt.
»Als hätten Sie einen Herzanfall oder etwas Ähnliches.«
Vitali hämmerte sich auf die Brust, dass es dröhnte. »Sehen Herzkranke so aus wie ich?«
»Sie haben gestöhnt…«
»Ich habe gestöhnt, weil ich eure Dummheit nicht mehr ertragen kann!«, schrie Vitali wütend. »Wie lange sucht ihr den jungen Semjon nun schon, he? Tagelang. Und was für einen Erfolg habt ihr aufzuweisen? Ihr kommt und sagt mir, wo er nicht zu finden ist, und ihr erzählt mir ein Schauermärchen von einem Haus, in dem es angeblich spuken soll!«
»Das sagen die Leute, Genosse Oberst!«, meinte der mit den Hasenzähnen.
»Na schön. Und weshalb erzählt ihr mir das?«
»Weil wir der Meinung sind, dass sich Semjon Muratow vielleicht dort versteckt haben könnte.«
Vitali kniff die Augen zusammen. »Wart ihr schon dort?«
»Nein, Genosse Oberst.«
»Warum nicht, zum Teufel!«, schrie Vitali außer sich vor Wut.
»Wir… wir dachten, vielleicht möchten lieber Sie …«
Der KGB-Oberst warf den Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus.
»Jetzt begreife ich. Ihr habt Angst, das Haus zu betreten!« Die Männer schüttelten wie auf Kommando erschrocken den Kopf. »Natürlich habt ihr Angst!«, brüllte Vitali sie an. »Ich kann sie doch in euren schneeweißen Gesichtern sehen!« Er zog die Mundwinkel verächtlich nach unten. Fast hätte er ihnen vor die Füße gespuckt, so viel Verachtung empfand er vor ihnen. »Männer wollt ihr sein? Memmen seid ihr. Ich werde das nicht in meinem Abschlußbericht zu erwähnen vergessen, darauf könnt ihr euch verlassen. Haben Angst vor einem Geist. Agenten des KGB – und haben Angst wie alte zahnlose Weiber!«
Vitali verlangte die Adresse des Geisterhauses, dann schickte er seine unfähigen Leute nach Hause.
***
Übel gelaunt wegen des Misserfolges setzte sich Zamorra in seinen Moskwitsch. Er hatte fest damit gerechnet, Semjon in diesem Haus anzutreffen. Das Gebäude war sein einziger Lichtblick bisher gewesen. Die Leere des Hauses war für Zamorra wie eine Ohrfeige des gehässigen Schicksals, das ihm nicht gestatten wollte, sein gutes Werk zu tun, wie er es Jessica Martin versprochen hatte. Sollte Semjon Muratow tatsächlich in Sibirien bleiben? Morgen war der fünfte und letzte Tag, den Zamorra in der Sowjetunion verbringen durfte.
Dann musste er ausreisen – Semjon zurücklassen und seinem Schicksal überlassen… Einem Schicksal, das Kyrill Vitali hieß, der weiterhin gnadenlos Jagd auf ihn machen würde, so lange, bis er in die Enge gerieben war. Und dann? Bleibergwerk. Zwanzig Jahre.
Das Ende war das!
Seufzend griff Zamorra nach dem Zündschlüssel. Morgen würde er noch einmal zu Lipski fahren. Allmählich gab er die Hoffnung auf, dass Fedja Lipski ihm eine große Hilfe sein konnte…
Als Zamorras Finger den Zündschlüssel berührten, sah er eine Gestalt durch die kalte schwarze Nacht huschen. Die Gestalt strebte dem Spukhaus entgegen. Semjon Muratow? Vermutlich ja. Hätte nicht jeder andere aus dieser Gegend einen großen Bogen um dieses Haus gemacht? Die Gestalt erreichte das Gebäude. Augenblicke später schien sie mit dem Haus zu verschmelzen. Sie war nicht mehr zu sehen.
Sogleich wollte Zamorra den Wagenschlag aufstoßen. Sein Optimismus war zurückgekehrt. Sein Herz schlug wieder freudiger und schneller. Endlich würde er Kontakt mit dem jungen Ingenieur bekommen. Endlich würde
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