0061 - Der Hexenberg
Park.
Plötzlich verhielt der Professor seinen Schritt. Seine Hand fuhr zur Brust, wo das Amulett hing.
»Sie ist ganz in der Nähe«, flüsterte er.
Nicoles Herz schlug schneller. Wenn das Weib nun etwas vorhatte – beispielsweise ein Attentat auf ihn? Der Gedanke versetzte ihr einen Stich. Ihm durfte ganz einfach nichts passieren.
Dann sahen sie die Gouvernante. Einer der beiden Söhne d’Aragnans, der vierzehnjährige Junge war bei ihr. Nicole atmete auf.
Wenn der Junge dabei war, drohte wohl keine unmittelbare Gefahr.
Auf einmal hatte sie eine Idee.
»Chef?«
»Ja?«
»Tu mir einen Gefallen. Sag ›Alte Schlampe‹ zu mir. Aber so laut und deutlich, dass Fabienne es hören kann.«
Zamorra blinzelte verständnislos.
»Was versprichst du dir davon?«
»Und anschließend«, fuhr Nicole fort, »haust du mir dann noch eine runter. Ideal wäre, wenn es dabei so richtig schön klatscht.«
»Nicole bist du nicht ganz bei Trost?«
Das Mädchen wurde ungeduldig. Dort kam eine Wegbiegung. Die Gouvernante würde gleich außer Reichweite sein.
»Hast du noch nie etwas von der Solidarität der Frauen gehört? Fabienne mag mit dem Bösen im Bunde sein. Aber sie ist und bleibt eine Frau. Nun mach schon!«
Der Professor zuckte mit den Schultern. »Ich weiß zwar immer noch nicht genau, auf was du hinauswillst, aber wenn du meinst… Nur eins noch: Sei vorsichtig. Das Weib ist brandgefährlich.« Und seine Stimme erhebend fügte er hinzu: »Du … Du Schlampe! Du dumme Gans!«
Gleichzeitig holte er aus und versetzte Nicole eine Ohrfeige. Sie spürte den Schlag kaum, obgleich es knallte, als habe er ihr die Backenknochen zerschmettert. Dass er blitzschnell die linke Hand zu Hilfe genommen hatte, die den Schlag auffing, konnte wirklich niemand erkennen.
Nicole stieß einen lauten Schmerzensschrei aus.
»Du… du Rohling! Gemeiner Kerl!« Und ganz leise sagte sie:
»Und nun mach, dass du wegkommst.«
Sie selbst kehrte dem Professor den Rücken und eilte mit schnellen Schritten auf eine Bank zu, die am Wegesrand stand. Ein lautes Schluchzen vortäuschend ließ sie sich auf der Bank nieder.
Zamorra schenkte ihr keine weitere Beachtung, dreht sich brüsk um und ging in entgegengesetzter Richtung davon.
Nicole schluchzte weiter aus voller Seele. Wer sie nicht kannte, musste zwangsläufig annehmen, dass ihr Herz im Begriff war, in den nächsten Sekunden zu brechen.
Ihr Manöver hatte einen durchschlagenden Erfolg zu verzeichnen.
Fabienne Duquesne, die sich der Bank zusammen mit ihrem Zögling näherte, war aufmerksam geworden, Nicole erkannte aus den Augenwinkeln, dass sie ein paar Worte mit Jacques d’Aragnan wechselte.
Der Junge nickte und ging, nicht ohne einen scheuen Seitenblick auf sie zu werfen, an ihrer Bank vorbei.
Die Gouvernante hingegen blieb vor ihr stehen.
»Haben Sie Kummer, Mademoiselle?«, fragte sie.
***
Nicole Duval war richtig stolz auf sich.
Fabienne Duquesne war auf ihren Trick reingefallen, hatte sich neben ihr auf der Bank niedergelassen und war voll weiblichem Mitgefühl.
Nicole brachte es sogar fertig, ein paar Tränen hervorzuquetschen.
»Sie glauben ja gar nicht, was dieser Mann für ein Rohling ist«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Ich… hasse ihn! Wenn ich doch nur könnte, wie ich wollte. Ich würde ihn … würde ihn …« Sie ließ ihre Stimme abbrechen und in einem perfekten Weinkrampf untergehen.
»Beruhigen Sie sich doch«, sagte die Gouvernante begütigend.
»Männer sind es gar nicht wert, dass man sich ihretwegen Gedanken macht.«
»Ich hasse ihn!«, wiederholte Nicole. »Am liebsten möchte ich ihn… möchte ich ihn …«
Der Körper Fabienne Duquesnes straffte sich plötzlich. Ein harter Zug trat in ihr Gesicht.
»Meinen Sie das wörtlich, Mademoiselle?« fragte sie.
Nicole nickte wild entschlossen. »Ich könnte ihn umbringen, ohne mit der Wimper zu zucken«, erklärte sie.
»Nun…« Die Gouvernante sah sie nicht an. Ihre Blicke saugten sich an einem Rosenstrauch fest, dessen gekringelte Blätter ein erbarmungswürdiges Bild abgaben. »Wenn Sie wirklich meinen, was Sie da sagen … Ich könnte Ihnen vielleicht helfen.«
»Wirklich?« Nicole Duval war ganz gespannte Erwartung.
»Haben Sie heute Nacht ein bisschen Zeit?«, erkundigte sich die Frau.
Nicole nickte entschlossen.
***
Ganz wohl fühlte sich Nicole nicht.
Sie hatte sich mit Fabienne Duquesne verabredet. An der Bank, an der sie sich am frühen Abend ›menschlich‹ nähergekommen
Weitere Kostenlose Bücher