0081 - Die Hexe von Los Angeles
zielstrebiger Hand in das Fadengewirr und nahm einen Faden, der zwischen vielen anderen verlief.
»Das ist dein Lebensfaden, Nicole Duval«, sagte sie. »Ein Schnippen mit der Schere, und du bist tot!«
Die Alte lachte hämisch. Als sie den Faden hielt, war es Nicole, als griffe eine eiskalte Faust an ihr Herz.
»Wer seid ihr?« fragte sie bebend.
»Hast du das noch nicht erraten?« fragten die drei Alten im Chor. »Die Nornen sind wir, die Schicksalsgöttinnen. Wir weben die Geschicke der Menschen nach dem Muster, dem die ganze Schöpfung untertan ist. Wir allein wissen um die letzten Wahrheiten, aber wir geben unser Wissen nicht preis. Wir erfüllen unsere Aufgabe.«
Eine der drei Nornen ergriff eine Schere. Sie zwickte einen Faden durch. Ein Todesschrei gellte, laut und gräßlich, hallte in dem riesigen Saal wider und verklang. Ein Mensch war gestorben.
»Noch kann ich nicht völlig über dich verfügen, Nicole Duval«, sagte die Hel. »Du wirst in meiner Totenwelt bleiben und mit den anderen Schatten umherirren und Qualen erleiden, bis dein Schicksal entschieden ist, so oder so. Geh jetzt!«
»Eine Frage habe ich noch«, sagte Nicole Duval. Ihr Herz hätte bestimmt bis zum Hals geklopft, wenn sie eins in ihrem Schattenkörper gehabt hätte. »Edwiga Blutzahn hat gesagt, ich müßte es büßen, wenn Zamorra und Bill Fleming ewas gegen sie unternehmen würden. Wie verhält es sich damit?«
»Wer hier büßt und weshalb bestimme immer noch ich«, antwortete die Hel. »Edwiga Blutzahn ist durch ihr loses Mundwerk schon einmal in Schwierigkeiten geraten. Ich bin nicht ihre Leibeigene, daß ich ihr zu gehorchen hätte. Das wird sich alles noch erweisen, Nicole Duval. Geh jetzt!«
Nicole Duval ging. Sie fror, sie hatte fürchterliche Angst. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit erfüllten sie derart, daß sie daran gestorben wäre, wenn sie einen sterblichen Körper gehabt hätte. Die Verbannung in die Unterwelt, ins Totenreich der kaltherzigen Hel, war die Hölle.
Nicole Duval schluchzte auf.
***
Der Morgen brach an. Die Götter hatten ihr Frühstück und ihren Mettrunk hinter sich, als Odin Zamorra und Bill Fleming vor seinen Hochsitz in einer anderen Halle führen ließ. Die Asen, die gestern abend an der Tafel gesessen hatten, waren alle versammelt.
Thor stand mit verschränkten Armen da, ein Bärenfell über den Schultern, eiserne Schmuckringe an den Handgelenken. Der schwere Hammer baumelte an seinem eisernen Gürtel.
Zamorra und Bill Fleming hatten essen und trinken dürfen. Bill Fleming wüßte keine Lösung des Rätsels, und Zamorra schwieg sich aus. Odin betrachtete die beiden mit seinem einen Auge.
Der Rabe saß auf seiner Schulter, Frigga, seine Gattin, stand neben dem hölzernen Hochsitz.
»Nun?« fragte der oberste Ase. »Könnt ihr mein Rätsel lösen?«
»Natürlich«, sagte Zamorra, der mit Bill Fleming in der modernen Kleidung des 20. Jahrhunderts in dieser Halle wie ein Fremdkörper wirkte. »Im Grunde genommen ist es ganz einfach.«
»So? Laß hören.«
Der Göttervater neigte sich gespannt vor.
»Du sprachst von dem Schwert, o Odin«, sagte Zamorra. »Das Schwert stärkt den Mut des Mannes, und es vernichtet ihn, wenn es ihn tötet. Es bringt den Tod, aber es schafft auch neues Leben, denn das Schwert ist die Waffe des Kriegers, und ohne Krieg gibt es keine Veränderung und keinen Fortschritt. Der Krieg ist der Vater aller Dinge, sagte ein Militärtaktiker lange nach der germanischen Zeit.«
Bill nahm begeistert auf, was Zamorra gesagt hatte, und sprach an seiner Stelle weiter.
»Mit dem Schwert werden Reiche vernichtet und Reiche gegründet und verteidigt«, sagte Bill Fleming. »Es paßt auch in eine kleine Hütte, und wenn es aus der Scheide gezogen wird, ist der Kampf nicht mehr fern.«
Die Asen staunten. Odin aber nickte. »Ihr habt das Rätsel gelöst. Ich hätte es nicht geglaubt. Mein Wort gilt. Die Unterstützung der Asen soll euch zuteil werden.«
»Wie können wir Edwiga Blutzahns Macht brechen, Odin?« fragte Zamorra sofort. »Ich will Nicole Duval keinen Augenblick länger als nötig in der Totenwelt lassen.«
»Die Hel hat sie auf mein Geheiß in einen Schlaf versetzt, in dem sie keine Qual und keine Verzweiflung spürt«, sagte Odin. »Ich habe dafür gesorgt. Ihretwegen brauchst du nichts zu überstürzen, Zamorra. Du bist ein tapferer Mann, und ich achte die Tapferkeit. Auch dein Freund Bill Fleming hat Mut und ein großes Herz. So sei es denn, daß einer der
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