009 - Der Engel von Inveraray
fortzufahren.
Haydon zog fragend die Braue hoch. „Ja?"
„Er erzählte, der Mann, den Sie getötet haben, sei bis zur Unkenntlichkeit entstellt gewesen." Genevieve drehte sich der Magen um, während sie mit bebender Stimme hinzufügte: „Sie sollen ihm den Schädel zertrümmert haben."
Kalte Wut verhärtete seine Züge und verlieh ihm ein wahrhaft Furcht erregendes Aussehen. In diesem Augenblick konnte Genevieve sich durchaus vorstellen, dass er eines Mordes fähig war.
„Das", stieß er mit unverhohlenem Zorn hervor, „ist eine schmutzige Lüge."
Sie starrte ihn an und drückte die Hände dabei so fest gegeneinander, dass es schmerzte. Wie gern würde sie ihm glauben! Schließlich hatte er Jack vor einer grausamen Prügelstrafe gerettet, nur um dafür selbst misshandelt zu werden. Und ihr neuer Schützling, der jeden mit Argwohn und Verachtung betrachtete, vertraute diesem Mann offenbar so sehr, dass er seine eigene Freiheit aufs Spiel gesetzt hatte, um ihm zu helfen, die seine zu erlangen. Im Augenblick jedoch brandete Lord Redmonds Zorn durch den Raum wie eine bedrohliche schwarze Woge, und Furcht stieg in Genevieve auf. Ihr Gefühl sagte ihr, dass dieser Mann höchst gefährlich sein konnte, wenn man ihn reizte - trotz seiner Schwäche und Verletzungen.
„Ich habe den Mann erstochen, Miss MacPhail", erklärte Haydon unvermittelt. „Mit seinem eigenen Messer. Dem Messer, das er mir in die Brust stoßen wollte.
Während des Kampfes ist es mir gelungen, ihm ein oder zwei Schläge ins Gesicht zu versetzen. Auch die drei anderen haben den ein oder anderen Hieb einstecken müssen. Nachdem ich ihren Kumpan getötet hatte, zog ich das Messer aus seinem Körper und ging auf sie los. Sie ergriffen die Flucht, doch vermutlich nicht aus Angst vor mir, sondern weil sie Stimmen hörten und nicht ertappt werden wollten. Als ich zu Boden blickte und erkannte, dass mein Angreifer tot war, ließ ich das Messer fallen und suchte das Weite."
„Wenn Sie sich lediglich verteidigt haben, warum sind Sie dann davongelaufen?
Warum haben Sie nicht die Polizei benachrichtigt?"
„Weil ich die Erfahrung gemacht habe, Miss MacPhail, dass die Behörden stets die einfachste Lösung bevorzugen", entgegnete er angespannt. „Ich war ein Fremder in Inveraray. Ich war betrunken. Ich hatte soeben einen Mann getötet. Meine Angreifer waren spurlos verschwunden, und auf Grund der Dunkelheit und meines betrunkenen Zustands wäre ich nicht im Stande gewesen, eine brauchbare Beschreibung von ihnen zu liefern. Noch dazu gab es keine Zeugen. Sie stimmen sicher mit mir überein, dass meine Lage nicht die glücklichste war. In diesem Augenblick hatte ich nur den einen Wunsch, ein Herbergszimmer zu finden, ins Bett zu fallen und meinen Rausch auszuschlafen. Vermutlich bildete ich mir in meinem betrunkenen Schädel ein, es reiche völlig aus, erst am nächsten Morgen zur Polizei zu gehen, wenn die Geschichte dank meiner Nüchternheit zumindest halbwegs glaubwürdig klingen würde. In Anbetracht meiner jetzigen Situation können Sie kaum bestreiten, dass meine Befürchtungen wohl begründet waren."
Für einen Moment herrschte Stille im Raum.
„Sie haben keinen Grund, mir zu glauben", räumte er schließlich ein.
„Ich kenne Sie nicht..."
„Es würde nichts ändern, wenn Sie es täten", unterbrach er schroff. „Sie würden dann gewiss noch schlechter von mir denken."
Sie wandte den Blick ab und sah zum Fenster hinüber, unfähig, das zornige Funkeln in seinen Augen länger zu ertragen.
Haydon schloss die Lider und wünschte verzweifelt, die Dinge lägen anders.
„Es tut mir Leid", murmelte er. „Ich hatte nie die Absicht, Sie in Gefahr zu bringen.
Ich wollte ein, zwei Nächte in Ihrem Wagenschuppen verbringen und dann verschwinden. Sie hätten nie erfahren sollen, dass ich überhaupt dort war."
„Dann hätte Constable Drummond Sie gefunden und heute früh verhaftet", erklärte Genevieve. „Die Polizei durchkämmt gerade alle Wagenschuppen und Gartenhäuser in Inveraray auf der Suche nach Ihnen."
„Himmel!" Er legte die Rechte an seine schmerzenden Rippen und schlug ungeschickt mit der Linken die Bettdecke zurück. „Wenn sie auf den Gedanken kommen, auch die Häuser zu durchsuchen, und mich hier finden, wird man Sie festnehmen. Ich fürchte, es wird nicht einfach sein, der Polizei zu erläutern, warum ich nackt in Ihrem Bett liege, wenn Sie angeblich die Absicht hatten, mich auszuliefern." Er biss die Zähne zusammen, um
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