009 - Der Engel von Inveraray
ihr das Atmen schwer fiel. Bis zu diesem Augenblick war sie derart gelähmt gewesen vor Angst, dass sie keinen klaren Gedanken hatte fassen können. Die Tatsache jedoch, dass der Earl offenbar nicht wusste, wer Haydon war, hatte ihre Erstarrung gelöst. Charles hat Lord Redmond nie getroffen, fiel ihr ein. Und Governor Thomson und Constable Drummond schienen unschlüssig zu sein, ob es sich bei dem elegant gekleideten Mann, der so selbstsicher und gelassen vor ihnen stand, um den gefährlichen Mörder handelte, den sie suchten. Es war diese leichte Unsicherheit, diese vage Chance, die ihr den Mut zum Handeln verlieh. Als Lord Redmond sich aus dem Sessel in ihrem Salon erhoben hatte, waren ihr die Veränderungen in seinem Auftreten und seinem Erscheinungsbild dramatisch vorgekommen, und sie hatte ausreichend Gelegenheit gehabt, ihn zu betrachten, während sie ihn in ihrem recht hellen Schlafzimmer gepflegt hatte. Sie konnte nur hoffen, dass der Unterschied für Governor Thomson und Constable Drummond, die ihn nur als schmutzigen, fiebrigen Betrunkenen mit zerzausten Haaren und Stoppelbart gesehen hatten, der in zerlumpter Gefängniskluft in einer dämmrigen Kerkerzelle lag, noch viel dramatischer sein musste.
Alle guckten sie erwartungsvoll an, auch Haydon, der sich nicht vorstellen konnte, welches Märchen sie den ungebetenen Besuchern wohl auftischen würde. Sie überlegte fieberhaft, als wen sie Haydon vorstellen konnte: Cousin, Onkel, Freund, Bekannter?
Sie kam zu dem Schluss, dass es nur eine Rolle gab, die ihm den dringend benötigten Schutz verleihen konnte.
„Meine Herren, ich würde Sie gern mit Mr. Maxwell Blake bekannt machen - meinem Gatten."
Sie vermochte nicht zu sagen, welcher der Anwesenden in dem überfüllten Salon entsetzter dreinschaute: ihre Kinder, ihre ungebetenen Gäste oder Eunice, Doreen und Oliver, die vor Verblüffung blinzelten.
„Geheiratet?" stotterte Charles, dessen wässrige graue Augen beinahe aus den Höhlen quollen. „Du hast geheiratet?"
„Ja." Sie trat an Haydons Seite, sah mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen zu ihm auf und flehte ihn stumm an, auf ihre List einzugehen. Haydon erwiderte ihren Blick und bemühte sich, Fassung zu bewahren, während er über diese unerhörte Wendung der Ereignisse nachdachte.
Als er erkannte, dass er keine andere Wahl hatte, legte er den Arm um Genevieves Taille, eine besitzergreifende Geste, die seinen Anspruch auf sie deutlich zum Ausdruck brachte. Sie erzitterte unter seiner Berührung, und er war tief betrübt bei dem Gedanken, wie sehr sie sich in diesem Moment fürchten musste.
„Ja", meinte er und zog sie an seinen kräftigen Körper. „Ich fürchte, das haben wir."
Sein starker Arm schützte sie wie ein schwerer Schild, und die Wärme seiner Haut drang durch den dünnen Stoff ihres Kleides und beruhigte sie. Ihr Zittern ließ nach.
Genevieve wusste, dass sie einen gefährlichen Weg eingeschlagen hatte, doch ihr war nichts Besseres in den Sinn gekommen, um ihn zu retten. Ermutigt durch seine körperliche Nähe, holte sie tief Atem und trat die Flucht nach vorn an.
„Maxwell", fuhr sie freundlich fort, „das ist Lord Linton, ein alter Freund, den du gewiss Charles nennen möchtest, und Governor Thomson, der geschätzte Direktor unseres Gefängnisses, der meine Bemühungen, den Kindern zu helfen, in der Vergangenheit so freundlich unterstützt hat. Und dies hier ist Police Constable Drummond, der hart arbeitet, damit die Straßen von Inveraray sicher für uns alle bleiben."
„Es ist mir ein Vergnügen, Sie endlich kennen zu lernen, meine Herren." Haydon gab jedem von ihnen die Hand. „Besonders Sie, Charlie." Das unwirsche Zucken um Charles' Mund belustigte Haydon. „Meine Gemahlin hat mir schon viel von Ihnen allen erzählt."
„Aber ... wie?" fragte Charles, dessen Gesicht dunkelrot angelaufen war. „Wann?"
„Eigentlich haben wir bereits vor einigen Monaten geheiratet", erklärte Genevieve, während sie sich fieberhaft eine glaubwürdige Geschichte zurechtlegte. „Du erinnerst dich vielleicht, Charles, dass ich wegen einiger geschäftlicher Angelegenheiten bezüglich der Ländereien meines Vaters nach Glasgow reisen musste. Maxwell und ich sind uns dort in einer Galerie begegnet."
„Meine Gattin und mich verbindet dieselbe Kunstbegeisterung." Haydon lächelte sie zärtlich an.
„Ich fürchte, unsere Verlobungszeit war recht kurz", fügte Genevieve hinzu und versuchte verzweifelt, sich nähere
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