009 - Der Engel von Inveraray
standen.
„Die Tür war nur angelehnt, und niemand hat unser Klopfen gehört", erklärte Governor Thomson, der ein wenig verlegen wirkte ob der Freiheit, die sie sich herausgenommen hatten.
„Und ich habe dem Governor und dem Constable versichert, dass du nichts dagegen hättest, wenn wir hineingingen", fügte der Earl of Linton aalglatt hinzu.
Der gut aussehende blonde Mann betrachtete Genevieve mit überheblichem, leicht gequältem Gesichtsausdruck, als sei ihm der Anblick, wie sie mit ihren Dienstboten und Kindern lachte, höchst unangenehm. Er war nach der neuesten Mode gekleidet und trug einen sorgfältig geschneiderten
schwarzen Mantel über eng anliegenden karierten Hosen und blank polierten kastanienbraunen Stiefeln. Der Mantel, dessen Revers mit ebenholzschwarzem Samt gesäumt war, schien aus feinster schottischer Lammwolle zu sein. Allmählich zeigten sich bei ihm die Folgen seines Wohlstands, das üppige Essen und die fehlende körperliche Anstrengung hatten seine Hüften und Schenkel rund werden lassen, und sein goldblondes Haar wurde in der Mitte des Schädels bereits schütter - obwohl er erst achtunddreißig Jahre alt war. Nachdem er Genevieve eine Weile kritisch gemustert hatte, ließ er den Blick rasch über die Kinder und die Dienstboten schweifen.
Dann wanderten seine Augen zu Constable Drummond, der Haydon anstarrte wie ein Raubtier seine Beute.
Es ist vorbei, erkannte Haydon. Er saß in der Falle. Selbst wenn der Weg zur Tür frei gewesen wäre, hätte er niemals etwas riskiert, das Genevieve oder die Kinder in Gefahr bringen könnte. Und so blieb er einfach stehen, und die Verzweiflung überflutete ihn wie eine riesige dunkle Woge. Warum hat Gott mir diese kurze Gnadenfrist gewährt, fragte er sich bitter. Warum hatte der Allmächtige sein Leiden verlängert, indem er ihn von der süßen Frucht der Freiheit hatte kosten lassen, nur um sie ihm dann grausam wieder zu entreißen?
Weil meine Sünden groß sind, rief er sich grimmig in Erinnerung. Er mochte seinen Angreifer in Notwehr getötet haben, doch es gab eine lange Liste anderer Verfehlungen, die seine Seele besudelten und jegliche Hoffnung auf Vergebung zunichte machten. Dass er seine Tochter Emmaline im Stich gelassen hatte, war natürlich die größte von allen. Er besaß keinerlei Anspruch auf Gnade angesichts dessen, was er ihr angetan hatte.
Es war das Beste, sich widerstandslos abführen zu lassen.
Er sah flüchtig zu Genevieve hinüber. Wie erstarrt stand sie da, ihre leuchtenden braunen Augen waren weit aufgerissen und spiegelten ihre Furcht. Auf einmal gab es so vieles, was er ihr mitteilen wollte und was nun für immer ungesagt bleiben würde. Er wollte ihr danken, nicht nur für ihre zärtliche Fürsorge, sondern für etwas viel Weitreichenderes. Sie hatte ihm gezeigt, dass Menschen auf dieser Welt existierten, die von Herzen gut waren. Das war eine außergewöhnliche Offenbarung für ihn, und er freute sich, dass sie ihm so kurz vor seinem Tod noch zuteil geworden war. Er wollte ihr auch dafür danken, dass sie Jack aus diesem schmutzigen Kerker befreit und ihm die Chance auf ein neues Leben geschenkt hatte. Und für ihren Glauben, wie flüchtig auch immer er gewesen sein mochte, dass es auch in seiner gequälten Seele etwas gab, das sich zu erlösen lohnte.
Er schaute sie an, die Gefühle hinter einer Maske kühler Gleichgültigkeit verborgen, denn er wollte nicht, dass die anderen auch nur erahnten, was er für Genevieve empfand. Er würde Miss MacPhail nicht tiefer in diese Sache hineinziehen, als unbedingt nötig war. Er beabsichtigte, Constable Drummond zu erklären, dass er sich gewaltsam Zugang in dieses Haus verschafft und gedroht hatte, sie, ihre Kinder und Dienstboten auf abscheulichste Weise umzubringen, wenn sie sich ihm widersetzen sollten. Mit versteinerter Miene betrachtete er Genevieve eindringlich, während er sich seinen Plan zurechtlegte, und hoffte, dass sie irgendwie spüren würde, was er weder zeigen noch aussprechen konnte.
Dann löste er den Blick von ihr und richtete ihn ruhig auf seine Häscher. Seine entspannte Haltung verriet nichts von dem schmerzlichen Bedauern, das ihn erfüllte.
„Ich bitte Sie um Verzeihung, Sir", sagte der Earl mit gezwungener Höflichkeit, während er Haydon anstarrte. „Sind wir einander vorgestellt worden?"
„Nein, Charles", warf Genevieve entschlossen ein, bevor Haydon antworten konnte. „Noch nicht." Ihr Herz pochte so heftig gegen ihre Rippen, dass
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