009 - Der Engel von Inveraray
bin sicher, Mr. Blake stellt lediglich Mutmaßungen an, um dem Gespräch Würze zu verleihen", warf Governor Thomson hastig ein. „Ist es nicht so, Mr. Blake?"
„Ich muss sagen, Sie haben einige recht hübsche Stücke hier, Governor Thomson", bemerkte Haydon, ohne auf die Frage einzugehen. Er hielt inne und betrachtete eine prächtige goldene Uhr auf dem Kaminsims. „Was für eine herrliche Antiquität.
Ein Schweizer Fabrikat, nicht wahr? Ich vermute mal, es wurde Anfang des achtzehnten Jahrhunderts gefertigt. Eine wahrhaft außergewöhnliche Arbeit. Ist es ein Familienerbstück?"
„Du liebe Güte, nein!" entgegnete Mrs. Thomson. „Ich gebe nicht ohne Stolz zu, dass sowohl mein Mann als auch ich aus sehr bescheidenen Verhältnissen stammen, Sir.
Diese Uhr wurde von meinem Mann erst letztes Jahr während einer gemeinsamen Reise nach Edinburgh erstanden."
Haydon zog eine Braue hoch. „Wie interessant."
Governor Thomson schob seinen Teller mit Bücklingen von sich. „Würdest du uns einen Augenblick entschuldigen, meine Liebe? Mir scheint, Mr. Blake und ich haben einige wichtige Dinge zu bereden."
„Ich verspreche Ihnen, Ihren Gatten nicht übermäßig lange mit Beschlag zu belegen." Haydon war Mrs. Thomson galant behilflich, als sie sich von ihrem Stuhl erhob. „Als frisch verheirateter Mann weiß ich, wie lang einem die Zeit wird, wenn man von seiner reizenden Gattin getrennt ist."
Mrs. Thomson lief rot an. „Gewiss, Mr. Blake", antwortete sie und blickte ihn dabei wie ein Schulmädchen schwärmerisch an. „Ich hoffe, wir werden bald wieder das Vergnügen Ihres Besuches haben. Einen schönen Tag noch, Sir."
„Nehmen Sie Ihren Hut und Ihren Mantel", verlangte Haydon barsch, sobald sie den Raum verlassen hatte. „Sie werden mich zu Richter Trotter begleiten."
Governor Thomson kratzte sich verwirrt am grauen Bart. „Warum?"
„Sie werden das Gnadengesuch unterstützen, das ich stellen werde, damit er seine gestrige Entscheidung widerruft, meine elfjährige Tochter zunächst ins Gefängnis und dann in eine Besserungsanstalt zu schicken. Sie werden ihm mitteilen, dass Sie in all Ihren Dienst jähren als Gefängnisdirektor nie eine vorbildlichere Gefangene gesehen haben. Sie werden ihm sagen, dass Sie ein besonderes Interesse an Charlottes Fall haben, weil sie ein so sanftes und tugendhaftes Kind ist und Sie erstaunt über die positiven Veränderungen sind, die sie gemacht hat, seit sie sich in der fürsorglichen Obhut meiner Gemahlin befindet. Sie werden verkünden, dass Charlotte ein Ausbund an Sittlichkeit und Gehorsam ist und Sie es daher, auch in Anbetracht ihrer schwachen Gesundheit, nicht mit Ihrem Gewissen vereinbaren können, sie länger in Ihrem Gefängnis zu behalten. Sie werden gestehen, dass Ihr Kerker bitterkalt, feucht und moderig ist und Charlotte Gefahr läuft, einem dieser Umstände zum Opfer zu fallen, sollte sie auch nur noch eine Nacht in ihrer Zelle verbringen müssen. Sie werden es so darstellen, als könnte sie jeden Augenblick ihr Leben aushauchen, Governor Thomson, und Sie werden Richter Trotter erklären, dass die Öffentlichkeit im Falle ihres Todes ihn und nicht Sie zur Verantwortung ziehen wird."
Völlig fassungslos starrte Governor Thomson ihn aus weit aufgerissenen Augen an.
„Das kann ich unmöglich tun", stotterte er.
„Sie können es, und Sie werden es", versicherte Haydon ihm in schneidendem Ton.
„Und wenn es Ihnen nicht gelingt, dass der Richter sein Urteil mit sofortiger Wirkung revidiert, und Sie ihn nicht davon überzeugen können, Charlotte wieder in die Obhut meiner Frau zu geben, werde ich schnurstracks zur Presse gehen und darauf hinweisen, dass eine gründliche Untersuchung der Zustände in diesem Gefängnis dringend geboten ist. Ich werde von den hier herrschenden Missständen berichten - von den Misshandlungen durch Wärter Sims, dem fauligen Wasser, den ungenügenden Mahlzeiten, die nicht einmal ein Hund fressen würde, der ungezieferverseuchten Gefängniskluft und Bettwäsche, den eiskalten, finsteren Zellen und ihren vor Dreck starrenden Nachttöpfen ..."
„Das stimmt alles nicht!"
„Nun, ich kann mich auf eine Quelle aus erster Hand berufen. Jack hat erst vor wenigen Wochen einige Zeit in Ihrer fauligen Kloake verbracht und mich und meine Frau über
ihre weniger schmeichelhaften Seiten aufgeklärt."
„Mein Gefängnis ist ein Musterbeispiel an Modernität", widersprach Governor Thomson empört. „Ich weise Sie darauf hin, dass es in
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