009 - Der Engel von Inveraray
einem Nachthemd und einem Schultertuch bekleidet in sein Zimmer gekommen war. Sie hatte erfahren wollen, warum er um Charlottes willen so große Gefahren auf sich genommen hatte. Sie hatte auch gehofft, einige der Schleier zu lüften, die den Mann umgaben, den der Rest der Welt für ihren Ehemann hielt. Doch das sind nicht die einzigen Gründe, erkannte sie zu Tode beschämt. Die Leidenschaft, die einige Nächte zuvor im Salon zwischen ihnen aufgeflackert war, hatte mächtige Gefühle in ihr wachgerufen, von denen sie zuvor nichts geahnt hatte. Allen Versuchen zum Trotz, diese Gefühle in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins zu verbannen, hatte sie sich danach gesehnt, sie abermals zu empfinden. Unbewusst hatte sie gewollt, dass Haydon sie berührte, hatte sich danach verzehrt zu wissen, wie es sich anfühlte, wenn er sie küsste und liebkoste, sie mit seiner Glut, seiner Kraft und seiner Leidenschaft erfüllte.
Sie lief durch den Raum und riss die Tür auf, verzweifelt entschlossen, vor ihm zu fliehen. Der Flur war kalt und dunkel, und als sie aus Haydons Zimmer trat, ließ sie all die Wärme und das Licht hinter sich zurück, die sie noch vor wenigen Augenblicken so genossen hatte.
„Danach verließ er das Gefängnis in Begleitung des Mädchens und kehrte gegen vier Uhr nachmittags zu Mrs. Blakes Haus zurück."
Mr. Timmons kratzte sich die Warze auf seiner Nase und klappte seinen Notizblock zu. „Ich habe das Haus bis gegen dreiundzwanzig Uhr observiert und bin dann hergekommen. Mr. Blake hat es nicht wieder verlassen, ebenso wenig wie eins der anderen Mitglieder des Haushalts."
Vincent Ramsay, Earl of Bothwell, trommelte mit seinen manikürten Fingern nachdenklich auf der zerkratzten Oberfläche des kleinen Tisches in seinem Hotelzimmer. Dann erhob er sich, zog einen Umschlag aus einer Innentasche seines Mantels und schob ihn über den Tisch. „Danke, Mr. Timmons. Ich werde mich mit Ihnen in Verbindung setzen, falls ich Ihre Dienste erneut benötigen sollte."
Mr. Timmons blieb vor Staunen der Mund offen stehen, als er auf das dicke Bündel Geldscheine blickte, das den Umschlag wölbte. „Vielen Dank, Mr. Wright, Sir", stieß er hervor, überwältigt von der Großzügigkeit seines geheimnisvollen Auftraggebers.
„Ich freue mich, Ihnen nützlich sein zu können. Wenn es noch etwas gibt, das ich für Sie tun kann ... vielleicht sollte ich Mr. Blake auch morgen beschatten ..."
Vincent öffnete die Tür seines Zimmers, erpicht darauf, den schmeichlerischen kleinen Mann loszuwerden. Eigentlich verachtete er Menschen, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, andere auszuspionieren, doch im Moment sah er keinen anderen Weg, als sich der Dienste von Mr. Timmons zu bedienen. Er hatte ihn fürstlich entlohnt, um sich seiner Verschwiegenheit zu versichern, war jedoch nicht so töricht zu glauben, dass er sich tatsächlich darauf verlassen konnte.
„Das ist alles für den Augenblick." Besser, der kleine Speichellecker bildete sich ein, ihm winkten noch weitere Aufträge. Das würde ihn gewiss ermutigen, seine Zunge im Zaum zu halten. „Gute Nacht." Er schloss unvermittelt die Tür und ließ Mr. Timmons, der den Umschlag fest umklammert hielt, draußen im Gang stehen.
Vincent schenkte sich ein Glas faden Sherry ein, nahm einen Schluck und schüttelte sich. Er war an derart billigen Fusel nicht gewöhnt, hatte jedoch seit seiner Ankunft in Inveraray alles vermieden, was unerwünschte Aufmerksamkeit auf ihn lenken könnte, und dazu gehörte auch, dass er darauf verzichtete, seiner Vorliebe für edle Tropfen zu frönen. Folglich hatte er sich als Mr. Albert Wright, Geschäftsmann aus Glasgow auf dem Weg in die Kohleabbaugebiete nördlich von Taynuilt, in diesem baufälligen kleinen Hotel einquartiert. Schlicht gekleidet und zurückhaltend, erregte er keinerlei Aufmerksamkeit. Nur wenn ihm seine von Fett triefenden Mahlzeiten serviert wurden, die er entweder in seinem Zimmer oder im Erdgeschoss in dem scheußlichen Speisesaal mit dem fleckigen Teppich und dem angelaufenen Besteck einnahm, konnte er sich bisweilen eine herablassende Bemerkung nicht verkneifen. Ansonsten gab er sich als ruhiger, höflicher, recht langweiliger Zeitgenosse aus und hoffte, dass man ihn vergessen hatte, sobald er die Tür hinter sich schloss. Er verfolgte nicht die Absicht, einen bleibenden Eindruck auf irgendjemanden in Inveraray zu machen.
Außer natürlich auf den vermissten Marquess of Redmond.
Als er erfahren hatte, dass
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