009 - Der Engel von Inveraray
denken konnte, doch nach dem Tod ihres Vaters hatte sich ihre Malweise dramatisch verändert. Einsam und von Sorgen geplagt, hatte sie einen Weg gesucht, um ihre Enttäuschungen, ihre Freuden und Ängste auszudrücken, und ihn in der Malerei gefunden. Jedes Werk in diesem Salon hatte eine besondere Bedeutung für sie, die weit über die Darstellung des Motivs hinausreichte. Es war, als sei die Leinwand mit ihrem Glück und ihrem Leid getränkt, als habe jeder Pinselstrich einen kleinen Teil von ihr für immer auf die Leinwand gebannt.
War es möglich, dass Haydon die Leidenschaft spüren konnte, mit der sie diese Bilder geschaffen hatte? Und wenn er sie spürte, bedeutete dies, dass völlig Fremde sie ebenfalls wahrnehmen würden und bereit wären, dafür zu zahlen?
Nein, erkannte sie jäh und schalt sich für ihre Torheit. „Niemand in Inveraray würde je eine Ausstellung veranstalten, die die Arbeiten einer Frau zeigt", sagte sie nüchtern. „Und keiner hier würde mein Werk jemals für wertvoll halten. Die Leute mögen bereit sein, mich für das Porträtieren ihrer Kinder zu bezahlen, doch das ist etwas ganz anderes, als Werke von mir nur um ihrer selbst willen zu kaufen."
„Sie haben Recht", räumte Haydon ein. „Doch ich beabsichtige nicht, Ihre Bilder in Inveraray auszustellen. Der Markt hier ist nicht groß genug, um die Preise zu verlangen, die Ihre Kunst in meinen Augen wert ist. Ich werde versuchen, eine Ausstellung in Glasgow zu arrangieren."
Offenbar wusste Haydon nicht, dass die Welt der Kunst eine rein männliche Domäne war. „Auch in Glasgow wird kein Kunsthändler einer Frau gestatten, ihre Werke in seiner Galerie auszustellen."
„Was eine gewisse Schwierigkeit darstellen könnte, wenn ich zugeben würde, dass diese Arbeiten von einer Frau stammen." Haydon stand vor Charlottes Porträt und betrachtete es nachdenklich. „Ein französischer Name würde sich gut verkaufen lassen. Meiner Erfahrung nach zeigen schottische Kunsthändler mit Vorliebe Werke, die im Ausland geschaffen wurden. Es verleiht den Bildern sogleich eine gewisse Glaubwürdigkeit und ein geheimnisvolles Flair."
„Sie schlagen also vor, wir sollten vorgeben, meine Bilder wären von einem Franzosen gemalt worden?" Genevieve war nicht sicher, ob ihr diese Vorstellung gefiel.
„Ich bin mir bewusst, dass es nicht die beste Lösung ist", gab Haydon zu. „Doch wenn wir eine Ausstellung für Ihr Werk erreichen und ein gewisses Interesse daran wecken wollen, ist dies in meinen Augen der beste Weg."
Genevieve starrte auf ihre kostbaren Bilder, die willkürlich im Salon verteilt worden waren. Ein jedes von ihnen ermöglichte dem Betrachter einen Einblick in ihr Leben und das ihrer Kinder. Es behagte ihr nicht, ihre Welt fremden Menschen zu präsentieren, damit diese sie begutachten und möglicherweise verspotten konnten.
Und die Vorstellung, ihre Arbeiten als die Werke eines Mannes ausgeben zu müssen, da sie in den Augen der anderen sonst keinen Wert hatten, war geradezu beleidigend.
Jamie, Annabelle, Grace, Charlotte, Simon und Jack schauten Genevieve erwartungsvoll an. Auf ihren Gesichtern lag Zuversicht, so als seien sie überzeugt, dass Genevieve, falls sie dem Verkauf ihrer Bilder nicht zustimmte, sofort eine andere Möglichkeit aus dem Hut zaubern würde, wie sie ihre Schulden bezahlen und für das Fortbestehen des Haushalts sorgen konnte. Oliver, Eunice und Doreen wirkten besorgt. Sie wussten besser als die Kinder, wie heikel die Lage war, in der sie sich befanden.
Schließlich erkannte Genevieve, dass sie kaum eine Wahl hatte.
„Nun gut, Lord Redmond", stimmte sie schließlich zu und versuchte, ihrer Beziehung eine gewisse Förmlichkeit zurückzugeben. „Sagen Sie mir nur, mit welchem Namen ich die Bilder signieren soll."
Alfred Lytton nahm die Brille ab, polierte sie energisch mit seinem zerknitterten Schnäuztuch und setzte sie dann erneut auf seine recht groß geratene Nase.
„Bemerkenswert", murmelte er und beugte sich vor, um die Gemälde genauer zu betrachten. „Höchst bemerkenswert." Er richtete sich abrupt auf und nahm erneut die Brille ab. „Sie sagen, dieser Boulonnais sei ein Freund von Ihnen, Mr. Blake?"
„Ein alter Freund", versicherte Haydon. „Wir haben einander vor ungefähr zehn Jahren kennen gelernt, als ich durch Südfrankreich reiste. Natürlich waren seine Werke damals noch völlig unbekannt. Ich hatte das Privileg, ihn in dem baufälligen alten Bauernhaus besuchen zu dürfen, in
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