Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Vorwort
Eine Kindheit am Amazonas
Wenn aus Fremden Freunde werden und irgendwann so viel Vertrauen entstanden ist, dass man auch etwas über seine Kindheit und Herkunft erzählt, dann muss ich immer erst mal tief Luft holen. Wie erklärt man, dass man zwar in Deutschland geboren wurde, aber seine prägenden Lebensjahre in einem Indianerdorf im brasilianischen Urwald verbracht hat? In ein paar Sätzen und ohne dass es danach klingt, als wolle man den anderen auf die Schippe nehmen? Wie erzähle ich jemandem, der wohlbehütet in »z ivilisierten Strukturen« aufgewachsen ist, dass meine Eltern mir ganz bewusst eine andere Kindheit ermöglichen wollten – ein Aufwachsen im völligen Einklang mit der Natur?
Mein Vater erforschte bereits seit Anfang der 1950 er Jahre im Auftrag verschiedener Institute die Lebensweise der Amazonas-Indianer, ihre Traditionen, ihre Sprachen, ihre Kulturen. Nebenbei testete er technische Geräte auf ihre Tropentauglichkeit, was ihm die nötige finanzielle Unabhängigkeit verschaffte.
Als er Mitte der 1960 er Jahre die Chance erhielt, ein mehrjähriges Forschungsprojekt bei den Aparai-Wajana-Indianern durchzuführen, zögerte er nicht lang. Eine junge Frau begleitete ihn als Assistentin in den Urwald. Meine Mutter. Aus dem Arbeitsteam wurde schließlich ein Paar. Die beiden heirateten in Brasilien, sehr zum Verdruss ihrer Familien, die der Vorstellung von einem Leben außerhalb der Zivilisation nicht wirklich etwas abgewinnen konnten. Nach einem Zwischenstopp in Deutschland, bei dem ich geboren wurde, stand für meine Eltern fest, dass sie möglichst bald wieder an den Amazonas zurückkehren wollten. Nicht lange Zeit nach meinem ersten Geburtstag ging es los. Ich kann mir lebhaft vorstellen, welche Diskussionen meine Eltern im Vorfeld über sich ergehen lassen mussten. Verwandte, Bekannte und Freunde, sie alle fühlten sich bemüßigt, ihre Bedenken zu äußern: »W as, wenn die Kleine krank wird?« – »W ie wollt ihr dort überhaupt mit einem kleinen Kind zurande kommen, wo es nicht mal Strom und fließend Wasser gibt, geschweige denn eine anständige medizinische Versorgung?« – »W as, wenn euch etwas zustößt? Dann seid ihr ja meilenweit von jeder Hilfe entfernt!« Doch meine Eltern ließen sich nicht beirren.
Die Skeptiker indes fühlten sich bestätigt, als ich nach unserer Rückkehr nach Deutschland sehr viel besser Aparai als Deutsch sprach. Dabei war es für meine Eltern wichtiger gewesen, dass ich die Sprache der Indianer möglichst perfekt beherrschte. »D eutsch lernt sie noch früh genug, sie soll hier wie alle anderen aufwachsen«, war die Auffassung meines Vaters.
Wenn ich Freunden und Bekannten heute zum ersten Mal von meiner ungewöhnlichen Kindheit erzähle, bin ich auf ihren Blick inzwischen vorbereitet. Auf diese Mischung aus vollkommener Überraschung, Skepsis und der Annahme, dass ich wohl der Spross einer völlig durchgeknallten Hippiefamilie sein müsse. Oder, schlimmer noch, dass meine Eltern einer verrückten Sekte in Südamerika angehört haben könnten. Über so etwas wird schließlich von Zeit zu Zeit in den Medien berichtet. Mit diesem skeptischen Blick ist meist die Erwartung verbunden, dass ich gleich zugeben werde, bloß einen Witz gemacht zu haben. Ein Gesichtsausdruck, der mich zum Lachen bringt. Meine Eltern waren vieles, doch Hippies, Missionare, Gutmenschen oder Sektierer waren sie ganz sicher nicht. Sie waren einfach von der Idee beseelt, die Kultur der indianischen Ureinwohner am Amazonas so gut wie möglich zu erforschen, indem sie selbst genauso lebten wie die Menschen dort. Deshalb passten wir uns dem Lebensrhythmus der Indianer an und nicht etwa umgekehrt. Ihre Kultur und Lebensweise wurde für die Dauer unseres Aufenthalts zur unsrigen.
Die Kunst- und Gebrauchsgegenstände, die Glaubensvorstellungen, Mythen und Überlieferungen, die mein Vater während seiner Forschungsaufenthalte im Lauf von insgesamt über fünf Jahrzehnten zusammentrug, zeugen von einer einzigartigen Kultur, die es in dieser Form heute kaum noch gibt. Als Kind habe ich natürlich nicht darüber nachgedacht, dass all jenes, was für mich normal war, eines Tages bedroht sein könnte. Dass diese stolzen Völker durch das unaufhaltsame Vordringen der Zivilisation mit ihrer grenzenlosen Gier nach Land und Rohstoffen eines Tages vernichtet würden.
Der Lebensraum dieser Urvölker, die seit Jahrtausenden den südamerikanischen Kontinent bevölkern, wird immer kleiner. Tag
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