009 - Der Engel von Inveraray
Stelldichein mit Haydon nutzten - auf der Terrasse, in den Rosengärten oder in irgendeiner dunklen Ecke - und sich einbildeten, ihre lüsternen Umarmungen und ihr halbherziges Zieren würden unbemerkt bleiben.
Haydons Eroberungen waren eine Form des Zeitvertreibs - wie das Kartenspielen und das Trinken. Um die Angelegenheit ein wenig amüsanter zu gestalten, hatte Vincent Wetten von den anderen Gästen angenommen, wessen Bett wohl von ihrem betrunkenen Freund in der vergangenen Nacht gewärmt worden war.
Als Cassandra ihm eines Nachts jedoch während eines Streits eiskalt erklärte, seine geliebte fünfjährige Tochter sei von Haydon gezeugt worden, war ihm das Lachen vergangen.
Er hatte sich nie für einen leidenschaftlichen Mann gehalten, der der Liebe und des Hasses fähig war. Er verhielt sich eher gleichmütig, würdig und beherrscht - und zwar so sehr, dass Cassandra ihn der innerlichen Kälte bezichtigt hatte. Doch sie hatte sich geirrt. Er war ihr gegenüber kühl gewesen, gewiss, denn es war ihr nie gelungen, etwas anderes als Wollust in ihm zu wecken, gefolgt von Verachtung.
Seine Liebe zu Emmaline jedoch hatte alle Gefühle übertroffen, die er je für irgendetwas oder - jemanden empfunden hatte. Und als er erfahren hatte, dass seine geliebte Tochter in Wahrheit nicht sein Kind war, sondern das Ergebnis eines brünstigen Schäferstündchens zwischen seiner Frau und einem Mann, den er zwar geduldet, doch stets verachtet hatte, war es ihm vorgekommen, als würde ihm das Herz aus der Brust gerissen und zermalmt werden.
Was er damals nicht gewusst hatte, war, dass Liebe sich nicht durch den einfachen Beschluss, sie sei vorüber, ausmerzen ließ.
Und dass ihm noch viel größeres Leid bevorstand.
Das goldgelbe Licht hinter den Vorhängen wurde Zimmer für Zimmer gelöscht, bis das ganze Haus schließlich still und dunkel vor ihm lag. Vincent malte sich aus, wie Haydon drinnen in einem warmen Bett lag, womöglich eng an die üppigen Rundungen der wohltätigen Miss MacPhail geschmiegt, die es so selbstlos auf sich genommen hatte, ihn zu retten und zu beschützen. Er hatte es warm und war am Leben, während Emmaline in ihrem kalten Grab vermoderte. Die Ungerechtigkeit war nicht zu ertragen. Vincent wollte ins Haus stürmen, Haydon einen Dolch in die Brust stoßen und sich an seinem Todeskampf weiden.
Geduld, mahnte er sich im Stillen. Du musst Geduld haben.
Vincent war ein wenig beunruhigt gewesen, als er am Nachmittag beobachtet hatte, wie Haydon in eine Kutsche gestiegen war. Wollte er vielleicht seine Maskerade in Inveraray beenden und andernorts Zuflucht suchen? Doch nachdem er ihm zu einer Kunstgalerie gefolgt war, wo Haydon sich über eine Stunde aufgehalten hatte, war er Zeuge seiner Rückkehr geworden. Am meisten hatte ihn der herzliche Empfang gewundert, der Haydon bei seiner Heimkehr beschert geworden war. Die Tür war aufgerissen worden, und ein alter Mann hatte ihm freundschaftlich auf die Schulter geklopft, während eine Schar Kinder unterschiedlichen Alters ihn umringt und an den Händen gefasst hatte, als könnten sie es kaum erwarten, ihn irgendwohin zu zerren.
Plötzlich stieg die Erinnerung in ihm auf, wie Emmaline mit ihren kleinen Fingern nach seiner Hand gegriffen hatte. Sie war noch nicht ganz drei Jahre alt und zog ihn mit sich, während sie auf wackligen Beinen den Korridor entlanglief. „Wo ist das Hündchen, Daddy?" krähte sie und führte ihn zu dem Zimmer, wo sie eines ihrer Stofftiere für ihn versteckt hatte. Es war eines ihrer Lieblingsspiele, und ganz gleich, wie offensichtlich das Versteck war, machte Vincent zu Emmalines Vergnügen stets großes Aufheben darum, unter jedem Stuhl und jedem Sessel nachzuschauen, sämtliche Kissen anzuheben und dabei ratlos die Stirn zu runzeln.
Er konnte sich nicht mehr genau entsinnen, wann er ihr zum ersten Mal die Hand entzogen hatte. Die Erinnerung daran war verschwommen, weil Emmaline fortfuhr, danach zu greifen - Tag um Tag, Woche für Woche , und ihn anbettelte, ihm zu folgen. Bis zu dem qualvollen Augenblick, als sie erkannte, dass ihr Daddy kein Verlangen mehr danach verspürte, ihre Hand zu halten - oder sie zu herzen, zu küssen, seine Wange an die ihre zu schmiegen, sie seine kleine Prinzessin zu nennen und sie an sich zu drücken. Oder ihr Hündchen zu suchen.
Danach hatte sie nie wieder die Hand nach ihm ausgestreckt.
Er blinzelte und zwang sich, wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren.
Der Tod ist zu wenig für
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