009 - Der Engel von Inveraray
dich, du Schurke!
11. KAPITEL
Glasgow war eine laute, geschäftige Stadt, in der Glanz und Elend dicht beieinander lagen. Der River Clyde schlängelte sich wie eine pulsierende blaue Ader durch ihr Herz und verband sie mit dem Firth of Clyde und schließlich mit dem Atlantischen Ozean. Dies machte Glasgow zu einem idealen Standort für die rasch wachsende Industrie. An die hundert Spinnereien übersäten die grüne, felsige Landschaft, und die Eisenhütten und Kohlebergwerke der umliegenden Gegend versorgten die Kesselschmiede, die Werften und Schiffsmaschinenbauer am Ufer des River Clyde.
Die blühende Industrie hatte einen schier unstillbaren Hunger nach billigen Arbeitskräften. Schotten aus dem Hochland schwärmten in der Hoffnung auf Arbeit in die Stadt, um dort festzustellen, dass sie mit ebenso verzweifelten Iren, Italienern und jüdischen Einwanderern darum konkurrieren mussten. Einige wenige Privilegierte brachten es zu ungeheurem Reichtum und feierten ihren Erfolg, indem sie prächtige Villen und öffentliche Gebäude errichteten und mit den erlesensten Antiquitäten, Möbeln und Kunstwerken ausstaffierten. Die Männer, Frauen und Kinder dagegen, die endlos lange Stunden in den Fabriken schufteten, schleppten sich nachts erschöpft in ihre stinkenden Elendsquartiere, wo sie einen nie enden wollenden Kampf gegen Hunger, Krankheit, Trunksucht und Gewalt fochten. Doch trotz dieser dunklen Seite war Glasgow zweifellos eine der prächtigsten Städte Europas.
Es war der ideale Ort für die spektakuläre Einführung des berühmten französischen Malers Georges Boulonnais in die schottische Kunstwelt.
Genevieve blickte gebannt auf die Frau im Spiegel und fragte sich, ob sie sich tatsächlich so sehr verändert hatte, wie ihr Spiegelbild zu verstehen gab. Das Kleid, das sie mit Eunices und Doreens Hilfe ausgesucht hatte, war ein schlichtes Teil aus schimmernder grauer Seide, dessen tiefes Dekollete mit durchscheinender cremefarbener Spitze gesäumt war. Es war nicht unbedingt der letzte Schrei und auch längst nicht so üppig verziert wie die anderen Kleider, welche die Verkäuferin ihr gezeigt hatte, doch Genevieve fand es trotz seiner verhältnismäßigen Schlichtheit sehr hübsch und wesentlich kleidsamer als alles, was sie in den letzten Jahren besessen hatte. Das Mieder war figurnah geschnitten und bildete ein schlankes Dreieck von ihren Brüsten bis zur Taille, von wo sich ihre Röcke zu einer perlgrauen Seidenglocke bauschten.
Das Hotel hatte Genevieve auf ihre Bitte hin ein Zimmermädchen geschickt, um ihr beim Ankleiden zu helfen, denn allein wäre sie mit dem Korsett, dem Reifrock und der endlosen Reihe kleiner Knöpfe und Haken am Rückenteil ihres Kleides hoffnungslos überfordert gewesen. Das Mädchen war ein freundliches, redseliges junges Ding mit Namen Alice, das sich erbot, Genevieve zu frisieren, was diese zunächst ablehnte. Sie würde ihr Haar einfach wie üblich hochstecken und hoffen, dass die Frisur den Abend über in Form bliebe. Doch Alice hatte sie bedrängt, ihr gesagt, dass sie nicht oft Gelegenheit habe, so schönes, volles Haar zu frisieren, und unendlich dankbar wäre, wenn Genevieve ihr erlaubte, den neuen Stil auszuprobieren, den sie in einer Pariser Modezeitschrift gesehen hatte, die eine Freundin ihr aus Frankreich geschickt hätte. Ihr diese Bitte abzuschlagen wäre schon beinahe unhöflich gewesen, und so gab Genevieve nach und erlaubte dem Mädchen, sich an der Bändigung ihrer schweren, vollen Haarpracht zu versuchen.
Als Alice ihr Werk beendet hatte, waren Genevieves rotblonde Locken zu einem im Nacken festgesteckten, glänzenden Bukett geschlungen. Über einem Ohr hatte Alice ein zartes Sträußchen aus rosa- und elfenbeinfarbenen Blüten festgesteckt, das einen hübschen Farbtupfer bildete, der in reizvollem Kontrast zu Genevieves grauem Kleid stand. Zunächst befürchtete Genevieve, die Blüten könnten ein wenig zu auffällig wirken, doch Alice hatte beteuert, sie seien höchst angemessen für eine Frau von ihrer Schönheit und Statur. Außerdem trügen die anderen Damen gewiss flaumige Straußenfedern, Bänder und sogar Edelsteine in ihrem Haar, so dass niemand sie für zu stark aufgeputzt halten würde.
Dunkelheit senkte sich langsam auf die Stadt. Genevieve entzündete die Öllampen in ihrem Zimmer und schaute erneut in den Spiegel. Sie war es nicht gewohnt, sich eingehender zu betrachten. Mein Haar sieht recht hübsch aus, musste sie zugeben, und mein Kleid
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