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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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am Abend sein würde, wenn sie beim Nachtmahl neben ihrem Teller das winzige Päckchen mit der kirschroten Seidenschleife entdeckte. Zur Erinnerung an den Umzug ins eigene Haus hatte Johann Isidor in dem neuen Antiquitätengeschäft J. & S. Goldschmidt in der Kaiserstraße eine goldene Brosche mit fünf Granatsteinen gekauft. Schön groß. »Und sehr repräsentativ«, hatte der jüngere der beiden Goldschmidts bestätigt.
    Auch Betsy war am Träumen. Im Detail und lächelnd malte sie sich aus, ihr Mann hätte ihr zur Wohnungseinweihung nicht einen praktischen Überwurf für die Küchenhandtücher geschenkt, sondern das dunkelgrüne Hütchen mit der cremefarbenen Straußenfeder, das sie schon seit zwei Wochen in einem neu eröffneten Putzmachergeschäft auf der Kaiserstraße bewunderte. Sie rief sich zur Räson – derlei Eitelkeit stand allenfalls einem jungen Mädchen zu, das noch nichts von Lebensernst und Verzicht wusste. Mit mehr als ihrer üblichen Energie riss die reuige Tagträumerin das Fenster auf. In tiefen Zügen zog sie die beißende Winterluft ein und schaute sehnsuchtsvoll hinüber zu den Bäumen in der Mitte der breiten Allee. Mit einem Mal verlangte es sie, zu rennen und zu springen und dabei zu singen, wie sie es zu Hause bei ihrem Vater getan hatte, wenn der Apfelbaum im Garten blühte und in der Küche die dralle Köchin Auguste die Sahne für den Kuchen schlug.
    »Ich will nie erwachsen werden«, hechelte das Mädchen mit den Ringellocken.
    »Willst du als Kind sterben?«, fragte der Vater. Seine Tochter wusste immer noch nicht, ob er sie streng angeschaut oder gelächelt hatte.
    »Ach«, seufzte Frau Betsy. Mit beiden Händen strich sie über ihren gewölbten Leib und wartete auf den Moment der Erlösung. Die Erinnerungen verblassten. Sie beschloss, sich um die Mittagszeit eine Viertelstunde an der Luft zu gönnen. Doktor Wolf, der als sehr modern und ebenso unkonventionell in seinen Behandlungsmethoden bekannt war, hatte tägliche Spaziergänge empfohlen.
    »Grüß mir alle«, rief sie ihrem Mann nach, doch er hörte sie nicht mehr. Seine Schritte waren, sobald er keine Rücksicht auf Frau und Kind zu nehmen hatte, lang und kräftig.
    Die Äste der Bäume trugen immer noch an der Last des Schnees, der in der vergangenen Woche in einer einzigen Nacht gefallen war. Umso größer war nun das Vergnügen, die Sonnenflecken auf dem gefrorenen Boden zu beobachten. Mit jedem Schritt, den er tat, genoss Johann Isidor die plötzliche Verwandlung der Winterwelt in eine der Zuversicht und Zukunftshoffnung. Noch letzten Montag hatten Sturm, Nebel und Eis das Leben bestimmt. Empfindsame Damen der besseren Gesellschaft hatten tagelang das Haus hüten müssen; junge Mädchen, die sich trotz aller Warnungen auf die Straße gewagt hatten, lagen nun mit verknackstem Knöchel auf dem Diwan und machten kalte Umschläge. In so mancher Herrschaftswohnung roch es nach Essig und Langeweile, und vom Eisregen, der binnen fünf Minuten das Leben in der ganzen Stadt paralysiert hatte, redeten die Männer noch am dritten Tag.
    Es war zu furchtbaren Karambolagen gekommen. Ein besonders tragischer Zwischenfall hatte sich am Eschenheimer Tor ereignet – zwei Pferde einer schweren Kutsche, die auf dem Glatteis umgekippt war, als wäre sie aus Blech, hatten notgeschlachtet werden müssen. Die drei weiblichen Insassen waren mit dem Schrecken davongekommen, nur den Fahrgast aus Bad Homburg, der bereits bei der Belagerung von Paris sein linkes Bein verloren hatte, hatte es hart getroffen: Der Mann musste mit schweren Verletzungen ins Spital gebracht werden.
    Nun hatte der Winter wenigstens für kurze Zeit seine Gewalt verloren. Zum kaiserlichen Geburtstag entfaltete sich bereits um zehn Uhr morgens die Lust des Lebens. Aufgeputzte Bonnen, wie schwatzhafte Dienstmädchen ins Gespräch vertieft, schoben ihre Kinderwagen in die verschneiten Parks und Anlagen. Selbst im feinen Westend freuten sich wohlerzogene Knaben so ausgelassen an ihrem schulfreien Tag, als wären sie Gassenbuben und hätten keinen, dem sie zu Hause Rede und Antwort stehen müssten. Mit ihren teuren Matrosenmützen spielten sie Ball, drückten auf fremde Haustürklingeln und rannten johlend davon, ehe die aufgestörten Bewohner Gelegenheit fanden, den Frevel zu ahnden. Kleine Mädchen in Samtmänteln und mit farblich passender Haube, begleitet von ängstlich mahnenden Müttern, waren ebenso wild wie die Jungen. Sie rannten, dass ihre Zöpfe flogen, schlugen

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