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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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kreischend auf ihre hölzernen Reifen ein und peitschten mit Männerschwung ihre bunten Holzkreisel aus.
    An der Eisbahn herrschte Hochbetrieb. Hübsche junge Damen drehten graziöse Pirouetten. Ihre schwarzen, knöchelhohen Stiefel und die bunten Schals ihrer Kavaliere leuchteten in der Sonne, ebenso die roten Dächer von hastig aufgestellten Zelten, in denen tüchtige Handelsfrauen Glühwein und heiße Maronen feilboten. Es duftete wieder nach Weihnachten und ein stadtbekannter Hagestolz wurde dabei beobachtet, wie er zwei ärmlich gekleideten Kindern einen Groschen zusteckte.
    Die Sonne machte Arm und Reich fröhlich. Ein findiger Zehnjähriger kam zu einer eigenen Eisbahn, indem er einen großen Wasserkrug auf dem Bürgersteig ausleerte. »Die Preußen kommen«, rief der schlaue Kecke. Er wusste nicht, was der Satz bedeutete. Der Großvater, der die Preußen in Frankfurt erlebt hatte, pflegte den Enkel entsprechend zu bedrohen.
    »Die Preußen können mich mal«, konterte sein Freund. Er hatte weder Großvater noch Vater. Nur ein Fräulein Mutter und, wie sein Gesicht wissen ließ, den Mut, den die zu kurz Gekommenen brauchen, um den Kopf nicht bei jeder Kränkung zu senken.
    Auch auf der Rothschildallee regten sich Treiben und Leben. Ein roter Ball mit gelben Punkten flog auf die Straße. Ein Kutscher musste abbremsen und fluchte so laut, dass sein Gezeter noch in der Burgstraße zu hören war. Fernab vom wirbelnden Trubel stand Otto Wilhelm Samuel Sternberg. Der schwarzhaarige Junge mit kräftigen Beinen und einem Ansatz von Locken, die seine Mutter entzückend fand und sein Vater insgeheim ein wenig weibisch, stand am Fenster des Wohnzimmers, in dem die neuen Möbel aus dunkelgrünem Velour vorerst durch weiße Tücher geschützt waren. Kein Fussel lag auf dem wertvollen Perserteppich mit den akkurat ausgekämmten Fransen. Eine besonders sorgsam angefertigte Kopie von Böcklins »Toteninsel«, das Prunkstück der alten Wohnung, hing bereits wieder an der Wand – in dem herrlichen goldenen Rahmen, den der kleine Otto immer dann berührte, wenn ihn niemand sah und mit Arrest im Kohlenkeller ängstigte. Akkurat waren die bordeauxroten Samtgardinen für die beiden hohen Wohnzimmerfenster gelegt, die Schabracken hatte die Hausherrin mit goldfarbener Borte einfassen lassen. Im Stoff steckten noch die Nadeln, um die Falten zu halten. Die Scheiben des Bücherschranks glänzten so, dass Otto sich in ihnen hätte spiegeln können. Gerade das wollte der Kleine nicht. Obwohl ihn niemand gescholten hatte, fühlte er sich verloren und traurig. Ihm war, als wäre er bei Tisch ohne Pudding in sein Zimmer geschickt worden.
    Der Vierjährige wusste nichts vom Kaisergeburtstag. Er bejubelte weder die Sonne am Himmel noch den Schnee auf den Bäumen. In der Wohnung, die noch nach Tapetenkleister und schon nach Bohnerwachs roch, flossen Tränen. Kindliche Schwermut lastete auf seinem Gemüt. Ahnte der Knabe, dass seine Welt nie mehr so unbeschwert sein würde wie in der alten Wohnung? Otto drückte seine Stirn gegen die frisch gewienerte Fensterscheibe. Jenseits der Straße, unter den Bäumen, spielten vier Knaben. Der Kleine seufzte, als wüsste er über das Leben Bescheid. Die Buben, alle mit grauen Strickmützen, balgten sich um den Ball, der eben erst den Rädern der Kutsche entkommen war. »Du Depp«, hörte Otto den größten der vier Jungen rufen.
    »Selber Depp«, wehrten sich die übrigen drei.
    Das jüngste Mitglied der Familie Sternberg hielt mit der Rechten sein linkes Ohr zu und seufzte noch lauter als zuvor. Wäre seine Mutter nicht durch die kandierten Veilchen abgelenkt gewesen, die auf den Mandelkuchen mussten, wäre sie herbeigeeilt, um nach ihrem Sohn zu schauen.
    Das Quartett der sich munter balgenden Jungen trug kurze graue Hosen, eine jede mit farbigen Stoffresten geflickt, die von Frauenkleidern stammten. Zum Schutz vor der Kälte steckten die dürren Kinderbeine in braunen Wollstrümpfen, die an Leibchen aus Kattun befestigt waren. Zwei der Jungen waren, wie Otto trotz der mütterlichen Restriktionen bald erfahren sollte, die Söhne des Hausmeisters, der das gegenüberliegende Anwesen versorgte. Die anderen beiden waren die Kinder eines Fuhrmanns aus der benachbarten Egenolffstraße.
    »Ich auch«, rief der erstgeborene Sohn von Johann Isidor Sternberg verlangend. Er stampfte mit seinem linken Bein auf und trommelte mit beiden Händen gegen die Scheibe. Es war ihm erst beim Frühstück verboten worden, aus

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