01 - Der Ring der Nibelungen
teilnahmslos in den Hof. »Und wenn schon? Siegfried ist tot.«
»Und sein Wille ist dir nicht Pflicht?«
Endlich drehte sie den Kopf zu ihrem Bruder. »War nicht alles Pflicht, was dieses Unheil uns beschert hat? Der Glaube, Dinge tun zu müssen, weil sie uns von oben herab bestimmt sind? Den König Siegfried habe ich verloren, weil mir die Pflicht den Schmied Siegfried verweigerte!«
Gernot kniete neben der Prinzessin nieder und nahm ihre Hand. »Das Wenige, was übrig ist, soll nicht auch noch untergehen. Lass uns gemeinsam nach Xanten reisen. Wir werden das Reich stärken - und wenn du es willst, dann reise ich mit Elsa weiter nach Dänemark, wie ich es dir versprach. Wenn wir kein Ende unserer Trauer finden - wie dann einen neuen Anfang?«
Zum ersten Mal seit Tagen glimmte ein Gefühl in Kriem-hilds Augen - es war böser Spott. »Ist es das, was dir das schwarze Mädchen zuflüstert? Dass du meinen Verlust nutzen sollst, um dir Dänemark zu sichern? Fürwahr, sie ist Hagens Kind!«
Etwas zerbrach in Gernot, ein kindliches Vertrauen, das er seiner Schwester immer fraglos geschenkt hatte. Selbst im größten Schmerz hätte er diese Worte von ihr nicht erwartet, und jeden, der sie zitierte, hätte er einen Lügner gescholten.
Entsetzt rutschte er zurück, bis er an die Balustrade des kleinen Balkons stieß. »Nein! Wie kannst du nur so etwas denken? Elsa ist nicht weniger in Blutschuld als du und ich!«
Kriemhild dachte nicht daran, ihre Worte zurückzunehmen. Ganz im Gegenteil. »Bist du so naiv, oder hat sie dir dein Blut schon so vergiftet? Du auf dem Thron von Dänemark - mit einer Tronjerin an deiner Seite? Wie kann das sein, wenn nicht als Ergebnis schwarzer Pläne, schwarzer Mächte?«
Gernot schluckte. »Ich will deine Worte dem Schmerz zuschreiben, der dich immer noch in seinem Griff hat. Doch wisse, dass ich über meine Liebe ebenso wenig übel reden lasse, wie du es für Siegfried beanspruchst. Ich bitte dich daher, die lästerlichen Reden zu unterlassen, denn sie fordern mich zu einer Wahl, die du nicht gewinnen kannst.«
Kriemhild lächelte freudlos. »Wir alle müssen wählen, Gernot. Gunther mag Elsa dulden, auch wenn nur sein schneller Dolch verhinderte, dass Hagen weiteres Unrecht stiften konnte. Es ehrt ihn - aber wo ich herrsche, wird Blut dieser Linie niemals mehr willkommen sein.«
Tränen rannen aus Gernots Augen, denn obwohl Kriemhild noch vor ihm saß, sah er sie aus seinem Blick verschwinden wie ein Schiff auf dem Weg zum Horizont. Die Schwester, die er kannte, glitt lautlos davon, und sie machte einer dunklen Flamme Platz, die anzusehen ihn quälte. Und die Wut aus ihrer ungerechten Anschuldigung presste Worte auf seine Lippen, die zu sprechen er sich selbst verboten hatte. »Gunther? Du sprichst diesen Namen im Zusammenhang mit Ehre? Und der unbefleckten Seele meiner Liebe sprichst du diese ab? Dann hör mir nun gut zu: Mit eigenen Ohren hörte ich Hagens Schwur, nicht ohne Gunthers Wort die Klinge gegen Siegfried zu ziehen!«
Kriemhild sah ihn an, stumm und bleich. In ihre Welt, aus Hass und Trauer aufgebaut, schlugen Gernots Worte ein wie vom Katapult geschossen. Trümmer fielen, und Fundamente brachen. Sie wollte ihren Bruder einen Lügner schimpfen, doch zu leicht baute sein Vorwurf ein neues Bild - eines, das viel stimmiger in seinen Farben war. Und dieses Bild brach ihre Lethargie. »Aber wenn Gunther schon wusste, warum . . . «
Gernot senkte den Blick, wohl wissend, dass er gerade den Rest seiner Familie dem Untergang geweiht hatte. »Ist es nicht offensichtlich? Du bist hier - und mit dir das Gold. Gunther hat keinen Konkurrenten mehr, weder auf dem Schlachtfeld noch in der Gunst des Volkes. Und jeder Zeuge schweigt auf ewig. Unser Bruder hat wahrlich einen hohen Preis bezahlt, um seine Macht zu halten. Sieh in seine Augen - es ist für jeden zu erkennen.«
Kriemhild stand auf, und einen Moment lang fürchtete der Prinz, seine Schwester wolle sich in die Tiefe stürzen. Doch sie stützte sich auf der Mauer ab und atmete tief durch. »So ist es nicht nur das Tronjer Blut, dem jede Schandtat zuzutrauen ist - auch die Burgunder spotten in der Tat dem Gebot ihres Gottes.«
Gernot ergriff vorsichtig ihren Arm. »Verstehst du nicht, Kriemhild? Es ist nicht das Blut, das böse Taten reizt, nicht die Geburt, die Unheil verspricht. Jeden Tag aufs Neue ist uns die Wahl gegeben, dem Übel abzuschwören. Und darum bitte ich dich: Finde dich mit dem Geschehenen ab, und lass
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