01 - komplett
Auf den Dächern glitzerte Raureif. An einem solchen Morgen in der Vorweihnachtszeit konnte ein Gentleman eine Menge unternehmen. Ausreiten zum Beispiel. Oder die neu eingetroffenen Hengste bei Tattersall’s begutachten und womöglich noch mehr Geld für Pferde ausgeben. Weiterhin bot sich die Möglichkeit, bei White’s die Zeitung zu lesen, mit Bekannten zu plaudern und ein paar Gläschen Brandy zu trinken.
Diese Überlegungen bewirkten, dass er herzhaft gähnte.
Natürlich konnte er auch zum Collett Square gehen und Miss Clara Davencourt einen Besuch abstatten. Dann hätte er wenigstens etwas nicht Alltägliches zu tun. Er würde ihr klarmachen, wie unklug es war, einen Frauenhelden in ihren Salon zu bestellen.
Niemals sollte eine junge Dame so etwas tun.
Sorgfältig faltete er das Schreiben zusammen und steckte es in die Rocktasche. Dann leerte er seine Tasse, erhob sich und streckte sich. Dabei wurde ihm bewusst, dass ein sehr ungewöhnliches Gefühl von ihm Besitz ergriffen hatte. Eine gewisse Leichtigkeit verbunden mit einer Art Vorfreude. Tatsächlich! Leichtfüßig nahm er zwei Stufen auf einmal, als er, nach seinem Kammerdiener rufend, die Treppe hinauflief.
Miss Clara Davencourt saß in der Bibliothek des Hauses am Collett Square und hörte mit halbem Ohr ihrer Gesellschafterin Mrs. Boyce zu, die aus dem „Female Spectator“ vorlas. Nach einer Weile warf Clara einen kurzen Blick auf die Uhr, die auf dem Kaminsims stand. Bestimmt hatte der Duke of Fleet ihren Brief inzwischen erhalten. Sie fragte sich, wann er wohl bei ihr auftauchen mochte, und verspürte eine gewisse Ungeduld.
Dann kam ihr der Gedanke, dass er vielleicht gar nicht kommen würde. Immerhin hatten sie sich vor achtzehn Monaten nicht gerade in bester Freundschaft getrennt.
Es war durchaus möglich, dass er sie überhaupt nicht mehr sehen wollte. Nervös begann sie, mit dem Stoff ihres Rocks zu spielen, nur um gleich darauf zu versuchen, die entstandenen Falten wieder glatt zu streichen. Sebastian Fleet war ein Frauenheld, den manche sogar einen Wüstling schimpften. Doch unter den gegebenen Umständen brauchte sie genau das: einen Rake. Ein Gentleman würde ihr wenig nutzen.
Clara rief sich das letzte Zusammensein mit Sebastian, Duke of Fleet, ins Gedächtnis.
Sie hatte ihn einen gefühllosen, kaltherzigen Schurken genannt, als er ihren zugegebenermaßen unkonventionellen, jedoch durchaus ernst gemeinten Heiratsantrag zurückwies. Um ihm die Ehe anzutragen, hatte Clara all ihren Mut zusammennehmen müssen. Deshalb hatte Fleets Ablehnung sie besonders hart getroffen und sie in ihrem Stolz nachhaltig verletzt. Wütend, enttäuscht und unglücklich zugleich hatte sie geschrien, er solle ihr aus den Augen gehen.
Verständlich, wenn er ihre Bitte nun ignorierte.
„Seine Gnaden, der Duke of Fleet, Madam“, verkündete Segsbury, der Butler der Davencourts, der plötzlich an der Tür stand.
Clara zuckte zusammen. Trotz aller Bedenken war sie sich ziemlich sicher gewesen, dass Sebastian auftauchen würde. Dennoch waren ihre Nerven jetzt aufs Äußerste gespannt. Auch Mrs. Boyce reagierte heftig auf die Ankündigung des Gastes. Sie ließ das Frauenmagazin fallen und hob die Hand an die Kehle. Leicht amüsiert bemerkte Clara, wie ihrer Gesellschafterin das Blut in die Wangen stieg. Sie musste sich auf die Lippe beißen, um ein Lächeln zu unterdrücken. Mrs. Boyce wirkte mit einem Mal so ... lebendig. Ihre Augen hatten zu strahlen begonnen, auf ihrem Gesicht lag ein erwartungsvoller Ausdruck. Genau diese Wirkung hatte der Duke auf viele Damen.
Da stand er auch schon an der Tür. Er verbeugte sich in Richtung der Gesellschafterin, deren zitternde Hände ihre Aufregung deutlich verrieten. Clara beobachtete das Ganze mit einem Anflug von Zynismus. Die Erfahrungen, die sie im Umgang mit Fleet gesammelt hatte, waren sehr einprägsam gewesen. Und eines wusste sie genau: Damen – ältere ebenso wie junge – mit seinem Charme zu verzaubern war für Sebastian so selbstverständlich wie zu atmen.
Als er sich dann allerdings ihr zuwandte, konnte sie trotz ihrer vermeintlichen Überlegenheit nicht verhindern, dass auch ihr ein angenehmer Schauer über den Rücken lief. Sie war davon überzeugt gewesen, während der vergangenen Monate gelernt zu haben, sich Sebastians Anziehungskraft zu entziehen. Jetzt begriff sie, dass sie sich selbst belogen hatte. Es war einfach unmöglich, Fleet gegenüber gleichgültig zu bleiben.
Er war ein großer Mann
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