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1. KAPITEL
12. Dezember 1816
„Deine Stiefmutter verlangt von dir, dass du einen Mörder heiratest?“ Lady Rowan Chilcourt starrte ihre Freundin an, die ganz blass geworden war. „Ich gehe zwei Jahre weg, und wenn ich wiederkomme, muss ich feststellen, dass du dich wie ein Lamm zur Schlachtbank führen lässt?“
„Zur Schlachtbank? Sag doch nicht so was, Rowan! Und was kann ich schon dagegen tun?“ Miss Penny Maylin wurde noch blasser, auch wenn das gar nicht möglich schien. „Wir wissen doch gar nicht, ob er ein Mörder ist – bestimmt ist er keiner –, aber was man sich so erzählt, ist schon beunruhigend, und Lord Danescroft – oh Rowan, wenn du ihn nur sehen könntest! Er ist so düster, ernst und furchtbar unheimlich.“
„Du musst dich weigern!“, erwiderte Rowan und begann so energisch auf und ab zu gehen, dass ihr Reisekleid aus Paris raschelte. Das war mal wieder typisch für Penny: Sie war die liebste, treuste Freundin, die man sich nur wünschen konnte, aber sie war auch schrecklich schüchtern und wagte es nicht, sich zur Wehr zu setzen, vor allem nicht gegen Lady Maylin. Und was Pennys Stiefmutter an Wohlerzogenheit abging, glich sie mit schierer tyrannischer Durchsetzungskraft aus.
„Ich kann ihn nicht abweisen, er hat mir noch keinen Antrag gemacht. Ich kenne ihn ja noch nicht mal, nicht von Angesicht zu Angesicht. Bisher habe ich ihn nur aus der Ferne gesehen, auf Gesellschaften. Lang geblieben ist er auch nicht. Und er redet nie mit den Leuten. Und er tanzt nicht“, fügte sie klagend hinzu. „Und er lächelt nie.“
„Ich habe damals vom Tod seiner Frau in der Zeitung gelesen.“ Rowan runzelte die Stirn und versuchte sich an das Gelesene zu erinnern. Das war während des glanzvollen Wiener Kongresses gewesen, wo sie für ihren Vater Lord Chilcourt die Rolle der Gastgeberin übernommen hatte, eine ereignisreiche Zeit voller Aufregungen, die etwas ganz anderes gewesen waren als die gesetzten, wohldosierten Vergnügungen, denen eine junge Dame von vierundzwanzig Lenzen in London nachgehen konnte. Die Nachrichten aus England schienen fremd und weit weg.
Trotzdem war Lady Danescrofts Tod ein sensationelles, skandalöses Rätsel gewesen; in den Berichten wurden nicht nur die schrecklichen Details ausgewalzt, wie der Butler sie am Fuß der Dienstbotentreppe gefunden hatte, mit gebrochenem Genick, sie waren auch voller verschleierter Andeutungen und Anspielungen. „Lebhaft“ sei Lady Danescroft gewesen, habe zur „Clique der jungen Leute“ gehört und sei berühmt gewesen für ihren „großen Freundeskreis“, der nicht nur aus Damen, sondern auch aus Herren bestanden habe.
Wie es schien, hatte der Earl of Danescroft weder bei der gerichtlichen Untersuchung der Todesursache noch bei der Beerdigung irgendein Gefühl gezeigt; er hatte sich geweigert, darüber zu spekulieren, was seine Frau wohl mitten in der Nacht auf der Dienstbotentreppe zu suchen gehabt hatte, und war im Lauf der Zeit angeblich immer einsilbiger und mürrischer geworden, wenn man ihn zu diesem Thema befragte.
„Sagen die Leute wirklich, er habe sie umgebracht?“, fragte Rowan. „In den Zeitungen gab es jede Menge Andeutungen, aber es wurde nicht berichtet, dass er offen beschuldigt oder gar angeklagt wurde.“
„Nicht direkt.“ Penny runzelte die Stirn. „Man findet es sehr merkwürdig, dass er nichts unternimmt, um die ganzen Gerüchte zu unterbinden. Er hat keine Trauer für sie getragen. Und ...“, sie errötete, „... angeblich hat er seinen Kammerdiener gleich am Tag darauf entlassen. Der Kammerdiener soll sehr attraktiv gewesen sein.“
„Den Kammerdiener hat er doch wohl nicht auch noch umgebracht?“, fragte Rowan halb im Scherz.
„Nein! O Rowan, sei doch einmal ernst.“ Penny zog einen Vorhang vor, um das Schneegestöber draußen auszuschließen. „Ich bin mir sicher – na ja, beinahe sicher –, dass er kein Mörder ist. Meine Güte, er ist schließlich ein Earl! Aber er sieht aus, als quälten ihn dunkle Gedanken, er ist eine düstere Erscheinung, und es heißt, dass sein Töchterchen die ganze Zeit eingesperrt sei. Das arme kleine Ding.“ Sie setzte sich und legte sich ein Umschlagtuch um die Schultern. Rowan bemerkte, dass es seit mindestens einer Saison aus der Mode war und auch nicht aus dem Atelier einer führenden Modistin stammte. „Wie könnte ich einen solchen Mann heiraten?“
„Er klingt wie der Schurke aus einem Schauerroman. Allerdings muss ich zugeben, dass er
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