01 - Nacht der Verzückung
ihrer steifen Glieder, regelrecht
erholt. Es sah für sie alles sehr englisch aus - sehr hübsch und sehr
friedlich und ziemlich fremd.
Doch
die Abenddämmerung setzte bereits ein und sie hatte womöglich noch einen
Fußmarsch vor sich. Sie hatte weder die Zeit noch die Energie, sich genauer
umzusehen. Außerdem hatte ihr Herz begonnen, wild in ihrer Brust zu schlagen
und eine gewisse Atemlosigkeit hervorzurufen. Sie hatte erkannt, dass sie jetzt
ihrem Ziel sehr nah war - endlich. Doch je näher sie ihm kam, desto
unsicherer wurde sie, ob sie auch willkommen war und ob es wirklich klug
gewesen war, diese Reise überhaupt unternommen zu haben - nur hatte es
wohl keine andere Möglichkeit gegeben.
Lily
drehte sich um und ging in das Gasthaus.
»Wie
weit ist es bis Newbury Abbey?«, fragte sie den Wirt und ignorierte die beinah
vollkommene Stille, die sich bei ihrem Eintreten über den Schankraum gelegt
hatte. Der Raum war zum Bersten mit Männern gefüllt, die allesamt in einer
festlichen Stimmung zu sein schienen, aber Lily waren solche Situationen nicht
fremd. Große Ansammlungen von Männern brachten sie weder in Verlegenheit, noch
machten sie ihr Angst.
»Zwei
Meilen, wenn dir das was sagt«, erklärte der Wirt, lehnte sich mit massigen
Ellbogen auf den Tresen und betrachtete sie von Kopf bis Fuß mit unverhohlener
Neugier.
»In
welche Richtung?«, fragte sie.
»An der
Kirche vorbei und durch die Tore«, sagte er und zeigte in die Richtung, »und
dann der Auffahrt nach.«
»Vielen
Dank«, sagte Lily höflich und wandte sich ab.
»Wenn
ich du wäre, schöne Maid«, rief ihr nicht unfreundlich ein Mann zu, der an
einem der Tische saß, »würde ich beim Pfarrhaus anklopfen. Direkt neben der
Kirche auf dieser Seite. Sie werden dir ein Stück Brot und einen Krug Wasser
geben.«
»Wenn
du Lust hast, dich hierher zwischen mich und Mitch zu setzen«, rief jemand
anderes in derber Heiterkeit, »werde ich dafür sorgen, dass du dein Stück Brot
und zusätzlich einen Krug Cidre bekommst, meine Süße.«
Schallendes
Gelächter, begleitet von einigen Pfiffen und lautem Klopfen auf den Holztischen,
entlud sich nach seinen Worten.
Lily
lächelte, ohne gekränkt zu sein. Sie wusste mit rauen Männern und rauen Sitten
umzugehen. Selten steckte etwas Böses oder auch nur übermäßige Respektlosigkeit
dahinter.
»Vielen
Dank«, sagte sie, »aber nicht heute Abend.«
Sie
ging hinaus. Zwei Meilen. Und es war fast schon dunkel. Doch sie konnte nicht
bis zum Morgen warten. Wo sollte sie bleiben? Sie hatte genügend Geld, um sich
ein Glas Limonade und vielleicht ein kleines Brot zu kaufen, aber nicht genug,
um eine Unterkunft für die Nacht zu bezahlen. Außerdem war sie ihrem Ziel so
nahe.
Nur
zwei Meilen.
***
Der Ballsaal von
Newbury Abbey, der schon großartig aussah, wenn er leer war, war reich
geschmückt mit gelben, orangefarbenen und weißen Blumen aus den Gärten und
Gewächshäusern und mit weißen Satinbändern und Schleifen. Er erstrahlte im
Licht Hunderter Kerzen, die in den Kristallleuchtern unter der Decke steckten,
und ihren unzähligen Reflexionen in den langen Spiegeln, die die beiden gegenüberliegenden
Wände verkleideten. Innen drängte sich die Elite der feinen Gesellschaft und
die Mitglieder des örtlichen Landadels, allesamt in edelster Garderobe,
herausgeputzt für den Hochzeitsball. Überall schimmerten Satin und Seide,
leuchteten Spitzen und weißes Leinen. Kostbare Geschmeide funkelten. Die
teuersten Parfums wetteiferten mit den Düften von tausend Blumen. Alle sprachen
mit lauter Stimme, um die anderen und die Klänge der Musik zu übertönen, die
von einem ganzen Orchester gespielt wurde.
Hinter
dem Ballsaal schlenderten Gäste in dem geräumigen Vorraum umher und stiegen die
beiden geschwungenen Treppen hinauf oder hinab, die zu dem darunter liegenden
kuppelförmigen, mit Pfeilern gestützten Hauptsaal führten. Einige spazierten im
Freien umher auf dem Balkon hinter dem Ballsaal oder über die Terrasse vor dem
Haus, um den steinernen Brunnen unterhalb der Terrasse herum, die gepflasterten
Wege des Stein- und Blumengartens entlang zur Ostseite des Hauses. Bunte
Laternen waren um den Brunnen herum aufgestellt worden und hingen von den
Bäumen herab, obwohl das Mondlicht auch ohne sie für genügend Beleuchtung
gesorgt hätte.
Es war
ein wunderbarer Maiabend. Man konnte nur hoffen, wie einige der Gäste laut
gegenüber Lauren und Neville äußerten, als sie die Empfangsreihe
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