01 - Nacht der Verzückung
nicht zu teilen. Sie lächelte und hob zum Abschied die
Hand. In diesem Moment ertönte erneut das Horn des Postillions als Warnung an
alle Umstehenden, dass die Kutsche nun ihre Reise antreten würde.
Mrs.
Harris' behandschuhte Hand war immer noch zu einem Abschiedsgruß erhoben, als
die Kutsche bereits vom Hof gerumpelt, auf die Straße eingebogen und den
Blicken entschwunden war.
»Ich
habe in meinem ganzen Leben noch niemals einen so sturen Menschen kennen
gelernt«, sagte sie und bediente sich wieder ihres Taschentuchs. »Und einen so
liebenswerten noch dazu. Was wird nur aus ihr werden, Gordon?«
Der
Captain seufzte erneut. »Ich fürchte, sie tut das Falsche«, sagte er. »Fast
anderthalb Jahre sind vergangen, und schon damals war es Wahnsinn. jetzt wird
es zweifellos völlig unmöglich sein. Aber sie will es nicht begreifen.«
»Ihr
plötzliches Erscheinen wird für eine fürchterliche Erschütterung sorgen«, sagte
Mrs. Harris. »Oh, was für ein törichtes Mädchen, dass sie nicht einmal die paar
Tage warten konnte, bis du den Brief geschrieben hättest. Wie wird sie nur
zurechtkommen, Gordon? Sie ist so zart und so zerbrechlich und so ... so
unschuldig. Ich mache mir Sorgen um sie.«
»Seit
ich Lily kenne«, antwortete Captain Harris, »hat sie sich äußerlich kaum
verändert, außer dass sie zugegebenermaßen dünner geworden ist. Doch der
Anschein von Zerbrechlichkeit und Unschuld ist trügerisch. Wir wissen, dass sie
Dinge durchgestanden hat, die selbst die mutigsten und tapfersten meiner Männer
auf eine harte Probe gestellt hätten. Sie muss Schlimmeres erlebt haben, als
wir uns überhaupt nur vorstellen können.«
»Ich
möchte es lieber erst gar nicht versuchen«, sagte seine Frau mit Nachdruck.
»Sie
hat überlebt, Maisie«, erinnerte er sie, »und sie hat sich ihren Stolz und
ihren Mut bewahrt. Und auch ihren Liebreiz - es sieht nicht so aus, als
sei sie verbittert. Trotz allem ist sie immer noch von einer Aura der Unschuld
umgeben.«
»Was
wird er tun, wenn sie dort plötzlich auftaucht?«, fragte Maisie, als sie sich
zum Frühstück auf den Rückweg zum Hotel machten. »Oh, Liebling, man hätte ihn
wirklich warnen sollen.«
***
Newbury Abbey,
Landsitz und Hauptbesitztum des Earl of Kilbourne in Dorsetshire, war ein
imposantes Herrenhaus inmitten eines großen, sorgsam gepflegten Parks, zu dem
auch ein einsames, mit üppigem Farnkraut bewachsenes Tal und ein goldfarbener
Privatstrand gehörten. Vor den Toren des Parks lag Upper Newbury - ein
malerisches Dorf mit strohgedeckten, weiß getünchten Häusern, die sich um die
hoch aufragende Turmspitze der Church of All Souls und einen Gasthof mit einem
Schankraum im Erdgeschoss und einem Versammlungsraum und Gästezimmern im
Obergeschoss ins Grüne schmiegten. Das Dorf Lower Newbury, ein Fischerdorf, das
um die geschützt liegende Bucht mit ihren schaukelnden Fischerbooten entstanden
war, war mit dem oberen Dorf durch eine steile Straße verbunden, die von
Häusern und ein paar Geschäften gesäumt wurde.
Die
Bewohner beider Dörfer und der sie umgebenden Landschaft waren, alles in allem,
zufrieden mit der stillen Abgeschiedenheit ihres Lebens. Doch letzten Endes
waren auch sie nur Menschen. Genau wie jeder andere auch freuten sie sich über
jede Abwechslung. Newbury Abbey sorgte gelegentlich dafür.
Das
letzte große Ereignis war vor über einem Jahr das Begräbnis des alten Grafen
gewesen. Der neue Graf, sein Sohn, hatte sich zu jener Zeit mit den Armeen Lord
Wellingtons in Portugal befunden und es war ihm nicht möglich gewesen,
rechtzeitig zu dem traurigen Anlass zurückzukehren. Doch er hatte sein
Offizierspatent veräußert und war zurück nach Hause gereist, um seinen
Verpflichtungen nachzukommen.
Aber
jetzt - Anfang Mai 1813 - erwartete die Menschen der Newburys ein
weitaus fröhlicheres und prächtigeres Ereignis als eine Beerdigung. Neville
Wyatt, der neue Graf von Kilbourne, ein junger Mann von siebenundzwanzig
Jahren, war im Begriff, seine angeheiratete Cousine, die zusammen mit ihm und
seiner Schwester Lady Gwendoline auf dem Landsitz aufgewachsen war, zu
ehelichen. Sein Vater, der verstorbene Graf, und Baron Galton, Großvater der
Braut mütterlicherseits, hatten diese Verbindung bereits vor vielen Jahren in
die Wege geleitet.
Es war
eine Verbindung ganz nach dem Geschmack des Volkes. Es konnte kein schöneres
Paar geben als den Earl of Kilbourne und Miss Lauten Edgeworth, darin waren
sich alle Dorfbewohner einig. Seine
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