01 - Winnetou I
Anknüpfungspunkt zu einer Strafrede, wie Bancroft gewiß noch keine gehört oder gar selbst erhalten hatte. Dieser hörte sie, vor Erstaunen wortlos, eine Weile an, dann fuhr er auf den Redner los, faßte ihn am Arm und schrie ihn an:
„Herr, wollt Ihr mir wohl gleich sagen, wie Ihr heißt?“
„White heiße ich; das habt Ihr ja gehört.“
„Und was Ihr seid?“
„Oberingenieur der benachbarten Sektion.“
„Hat jemand von uns Euch dort etwas zu befehlen!“
„Ich denke, nein.“
„Nun wohl! Ich heiße Bancroft und bin Oberingenieur der hiesigen Sektion. Es hat mir kein Mensch etwas zu befehlen, am allerwenigsten aber Ihr, Mr. White.“
„Es ist richtig, daß wir uns vollständig gleichstehen“, antwortete dieser ruhig. „Befehle von dem andern anzunehmen, hat keiner von uns beiden nötig. Aber wenn der eine sieht, daß der andere das Unternehmen, an welchem beide arbeiten sollen, schädigt, so ist es seine Pflicht, den Betreffenden auf seinen Fehler aufmerksam zu machen. Eure Lebensaufgabe scheint im Brandyfaß zu stecken. Ich zähle hier sechzehn Menschen, welche alle betrunken waren, als ich vor zwei Stunden hier ankam, und so –“
„Vor zwei Stunden?“ fiel ihm Bancroft in die Rede. „So lange seid Ihr schon hier?“
„Allerdings. Ich habe mir die Aufnahmen angesehen und mich darüber unterrichtet, wer sie gemacht hat. Das ist ja das reine Schlaraffenleben hier gewesen, während ein einziger, und noch dazu der Jüngste von Euch allen, die ganze Arbeit zu bewältigen hatte!“
Da fuhr Bancroft zu mir herum und zischte mich an:
„Das habt Ihr gesagt, Ihr und kein anderer! Leugnet es einmal, Ihr niederträchtiger Lügner, Ihr heimtückischer Verräter!“
„Nein“, antwortete ihm White. „Euer junger Kollege hat als Gentleman gehandelt und nur Gutes über Euch gesprochen. Er hat Euch in Schutz genommen, und ich rate Euch, ihm um Verzeihung zu bitten, daß Ihr ihn einen Lügner und Verräter nanntet.“
„Um Verzeihung bitten? Fällt mir nicht ein!“ lachte Bancroft höhnisch auf. „Dieses Greenhorn weiß kein Dreieck von einem Viereck zu unterscheiden und bildet sich trotzdem ein, Surveyor zu sein. Wir sind nicht vorwärtsgekommen, weil er alles verkehrt gemacht und uns aufgehalten hat, und wenn er nun, anstatt dies einzusehen und zuzugeben, uns bei Euch verleumdet und anschwärzt, so – – –“
Er kam nicht weiter. Ich war monatelang geduldig gewesen und hatte diese Leute nach ihrem Belieben über mich denken lassen. Jetzt war der Augenblick da, ihnen zu zeigen, daß sie sich in mir geirrt hatten. Ich ergriff Bancroft beim Arm, drückte ihn so, daß er vor Schmerz den angefangenen Satz unausgesprochen ließ, und sagte:
„Mr. Bancroft, Ihr habt zu viel Schnaps getrunken und nicht ausschlafen können. Ich nehme an, daß Ihr noch betrunken seid, und es mag also so sein, als ob Ihr nichts gesagt hättet.“
„Ich, betrunken? Ihr seid verrückt!“ antwortete er.
„Jawohl, betrunken! Denn wenn ich wüßte, daß Ihr nüchtern seid und die Beschimpfungen mit Überlegung ausgesprochen habt, so wäre ich gezwungen, Euch wie einen Buben zu Boden zu schlagen. Verstanden! Habt Ihr nun noch das Herz, Euren Rausch abzuleugnen?“
Ich hielt seinen Arm noch fest in meiner Hand. Er hatte gewiß nie geglaubt, jemals vor mir Angst haben zu müssen; jetzt aber fürchtete er sich; das sah ich ihm an. Er war keineswegs ein schwacher Mann, aber der Ausdruck meines Gesichtes schien ihn zu erschrecken. Er wollte nicht sagen, daß er noch betrunken sei, getraute sich aber auch nicht, seine Beschuldigungen aufrechtzuerhalten; darum wendete er sich um Hilfe an den Anführer der zwölf Westmänner, die uns zur Unterstützung beigegeben waren:
„Mr. Rattler, duldet Ihr es, daß dieser Mensch sich an mir vergreift? Seid Ihr nicht hier, um uns zu beschützen?“
Dieser Rattler war ein hoch und breit gebauter Kerl, welcher die Kraft von drei, vier Menschen zu besitzen schien, ein rohes Subjekt und zugleich Bancrofts liebster Trinkkumpan. Er konnte mich nicht leiden und nahm jetzt mit Freuden die Gelegenheit wahr, dem Groll, den er gegen mich hegte, Luft machen zu dürfen. Er trat schnell herbei, faßte mich am Arm, so wie ich Bancroft noch immer bei dem seinigen hatte, und antwortete:
„Nein, das kann ich nicht dulden, Mr. Bancroft. Dieses Kind hat seine ersten Strümpfe noch nicht abgelaufen und will hier erwachsenen Männern drohen, sie verschänden und verleumden. Tu die Hand von Mr.
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