0106 - Hügel der Gehenkten
Schon seit drei Tagen stand der alte Zigeunerwagen vor dem Ort!
Er fiel allen auf, doch niemand traute sich, den Wagen zu öffnen und hineinzugehen. Jeder machte einen Bogen um ihn.
Ein Zigeunerlager. Das war etwas Geheimnisvolles, etwas Fremdes und etwas, vor dem man Angst haben konnte.
Denn die alte Kullina hatte es zuerst bemerkt.
Sie hörte Stimmen.
»Da wohnen welche drin«, sagte sie an diesem Abend in der Dorfkneipe. »Ich habe es genau gehört. Und wenn ich ehrlich sein soll…« Sie blickte in die Runde und sah nur angespannte Gesichter.
»Soll ich ehrlich sein?«
»Ja, zum Henker, rede schon, Alte!« fuhr der Wirt sie an und stellte ihr ein Glas mit Selbstgebranntem Kräuterschnaps hin. Die Alte nahm das Glas und kippte den Schnaps. »Nicht nur Stimmen habe ich gehört, sondern auch Geräusche.«
»Welche Geräusche?« fragte der Bürgermeister vom Stammtisch her.
»Schlimme Sachen. Schmatzen, würgen, kichern…«
»Die Alte spinnt!« Der Mann, der diese Feststellung traf, war noch jung und lebte erst seit drei Monaten im Ort. Er hieß Gulliver O’Flynn und hatte sich im Gasthaus einquartiert. Angeblich wollte er eine Arbeit über Wales schreiben. So hatte er wenigstens erzählt.
Und die meisten glaubten ihm auch, denn morgens in der Frühe machte er sich schon auf den Weg. Mit Rucksack und festem Schuhwerk stieg er in die Berge hoch. Er hatte Karten bei sich, außerdem allerlei Geräte, mit denen er den Boden und die Steine untersuchte.
Ein alter Schäfer hatte ihn dabei gesehen und seine Beobachtungen im Dorf mitgeteilt.
Gulliver schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Der junge Mann war ziemlich groß, hatte flachsblondes Haar und einen hellen Vollbart. In seinen Augen funkelte immer der Spott, und er war stets zu Scherzen aufgelegt.
Jetzt kam er auf den Stammtisch zu, wo auch die alte Kullina saß.
Die Männer machten ihm Platz.
O’Flynn sah es und nickte dankend. Vor dem Tisch blieb er stehen und stützte seine Hände auf. »Warum erzählst du hier Schauermärchen, Alte?«
Die Kullina kicherte. »Das sind keine Schauermärchen. Ich habe alles selbst gehört.«
»Wirklich?«
Die Alte schlug ein Kreuzzeichen. »Ich schwöre es. Mit diesem Wagen stimmt etwas nicht. Der hat das Grauen geladen. Und kennst du eigentlich den Fluch, du junger Spund?«
»Ja, davon habe ich gehört!«
Die Alte hob warnend den dünnen Zeigefinger und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Dann wird dir sicherlich bekannt sein, daß der Wagen in der Nähe des Hügels steht.«
Gulliver winkte ab. »Diese Zeiten sind vorbei«, sagte er. »Aber sie können wiederkommen.«
»Nein.« Die Alte öffnete ihren zahnlosen Mund und lachte lautlos. Ihr faltenreiches Gesicht verzog sich dabei noch mehr, so daß die Haut richtig einschrumpfte. »Vielleicht wirst du es erleben, daß der Hügel noch einmal sein schreckliches Geheimnis preisgibt. Und dann ergeht es dir dreckig.«
»Der Galgen ist verschwunden«, sagte Gulliver. »Es wird keiner mehr gehängt. Warum willst du das nicht begreifen?«
»Der Fluch ist noch nicht gelöscht.« Die Alte wandte sich wieder an den Wirt. »Noch einen Schnaps.«
»Kannst du auch bezahlen?«
»Ich übernehme den«, sagte der Bürgermeister. »Okay.« Die Alte bekam ihr Glas und stürzte das scharfe Getränk hinunter. »Ich spürte es, nein, ich weiß es, in dieser Nacht wird etwas geschehen. Der Hügel lebte. Der Geist des Schamanen lauert in der Tiefe. Der Herrgott sei uns gnädig«, formulierte sie mit Grabesstimme, und die um den Tisch sitzenden Männer nickten gedankenschwer.
Nur Gulliver O’Flynn grinste. Dann lachte er plötzlich. »Wißt ihr was, Leute?« Die Männer schüttelten die Köpfe. »Ich, Gulliver O’Flynn, werde dem Geheimnis des Wohnwagens auf den Grund gehen.«
»Wie meinst du das?« fragte der Bürgermeister. »Ganz einfach. Ich statte ihm noch in dieser Nacht einen Besuch ab. Ich will das Rätsel lösen. Und ich will euch beweisen, daß die alte Kullina unrecht hat.«
»Ha!« kreischte die Frau und hob beide Hände, wobei sie noch die Finger spreizte. »Das ist Wahnsinn, was du vorhast. Wer sich diesem Wagen nähert, ist des Todes.«
Gulliver O’Flynn tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn.
»Dann müßtest du doch auch längst tot sein«, erwiderte er.
»Schließlich hast du gehorcht.«
»Ja«, flüsterte die Alte. »Du bist nicht ich, und ich bin nicht du.«
»Ist mir noch gar nicht aufgefallen«, kicherte der junge Student.
»Damit
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