013 - Der Kopfjäger
zu sagen«, meinte Melville nachdenklich. »Ich habe ihn vor einiger Zeit auf einer Party getroffen. Er war ein ziemlich extravaganter Bursche. Einige behaupteten, er sei nicht ganz richtig im Kopf. Er trug nur schwarze Anzüge und altmodische schwarze Hüte. Sein Blick war unglaublich stechend. Wenn er einen anblickte, glaubte man, sein Blick würde einen durchbohren. Er gehörte einer Gruppe von Geisterbeschwörern an und wollte mit seinem Urahnen Charles-Henri Sanson in Verbindung treten, hatte aber keinen Erfolg damit. Er schwätzte ziemlich wirres Zeug.«
Der Kellner servierte die Schnecken, und wir schwiegen. Ich breitete die Serviette über meine Knie und begann zu essen.
Die Schnecken waren ausgezeichnet; zu gut, als daß ich Lust gehabt hätte, über ungeklärte Morde zu sprechen. Wir warteten bis der Kellner abgeräumt hatte, ehe wir unsere Unterhaltung fortsetzten.
»Sanson war eines der ersten Opfer«, sagte Melville. »Es gelang mir herauszubekommen, bei welchem Kreis von Geisterbeschwörern er hauptsächlich verkehrte. Ich habe mich dort ein wenig umgehört, aber nichts Wesentliches erfahren. Sogar an einer Seance habe ich teilgenommen.«
»Ich möchte diesen Kreis gern kennenlernen«, sagte ich.
»Morgen findet eine Zusammenkunft statt. Es sind keine besonderen Aufnahmeformalitäten nötig. Jeder kann an so einer Seance teilnehmen. Er muß nur hundert Francs zahlen.« Melville grinste. »Ein riesiger Schwindel, wenn Sie mich fragen, aber die Dummen sterben nicht aus. Wenn Sie unbedingt daran teilnehmen wollen, führe ich Sie morgen hin.«
»Ja, das will ich. Was ist sonst noch über Sanson bekannt?«
»Wenig«, sagte der Reporter. »Er hat ziemlich zurückgezogen gelebt. Er mußte nie arbeiten, da ihm seine Eltern ein kleines Vermögen hinterlassen hatten.«
»Ich möchte mir seine Wohnung ansehen.«
»Das wird schwierig sein«, meinte Melville. »Und Sie werden auch sicherlich nichts finden, was uns weiterhilft. Die Polizei hat bereits alles auf den Kopf gestellt.«
»Was ist mit den anderen Opfern? Wann geschahen die Morde? Und wo?«
»Das ist ziemlich seltsam.« Melville verschränkte die Hände auf dem Tisch. »Die kopflosen Leichen wurden nie in einem der inneren Bezirke von Paris gefunden, sondern nur in den Außenbezirken. Vor allem im 13. Bezirk Gobelins. Man fand sie in einsamen kleinen Gassen, auf verlassenen Grundstücken und in Häusern. Die Polizei befürchtet, daß es noch mehr Opfer gibt.«
»Sie schrieben in Ihrem Artikel, daß die Leichen völlig blutleer waren.«
»Das ist ja das Rätselhafte daran«, meinte Melville und strich sich übers Kinn. »In fast allen Fällen stellte die Polizei fest, daß die Opfer dort getötet wurden, wo man sie fand, aber man entdeckte keinen Tropfen Blut.«
»Hm«, sagte ich und dachte an meinen Bruder. »Eine andere Frage: Wurden die Leichen enthauptet oder wurden sie …«
»Da hüllt sich die Polizei in Schweigen. Aber ich bin mit einem Polizeichef befreundet, und der erzählte mir, daß die Opfer in den meisten Fällen bei lebendigem Leib enthauptet wurden. Nur bei diesem Pierre Gormat liegt die Sache anders. Der Arzt behauptet, daß Gormats Kopf fachkundig amputiert worden sei.«
»Damit meint er, von einem Arzt?«
Melville nickte. »Genau. Dieser Tote scheint nicht zu den anderen zu passen. Und noch etwas erschwert die Aufklärung: Es ist noch in keinem einzigen Fall gelungen, auch nur annähernd die Todeszeit festzustellen.« Melville griff in seine Brusttasche und holte ein Stück Papier hervor, das er mir reichte. »Hier haben Sie die Namen der vierzehn Toten, ihre Adressen und wo Sie zuletzt gesehen wurden.«
Ich studierte die Aufstellung. Es waren neun Männer und fünf Frauen zwischen achtzehn und dreiundsechzig. Die meisten waren zuletzt in den frühen Abendstunden gesehen worden. Ich legte die Aufstellung zur Seite. Sie half mir im Augenblick nicht weiter.
»Die Bevölkerung ist in großer Aufregung«, sagte Melville. »Die Leute haben entsetzliche Angst, was nur zu verständlich ist. Die Morde sind so völlig sinnlos. Niemand weiß, wer das nächste Opfer sein wird.«
Der Ober servierte Huhn auf normannische Art, und ich kostete. Es schmeckte ebenfalls ausgezeichnet, aber mir war der Appetit vergangen. Nach einigen Bissen hatte ich genug. Melville hatte eindeutig den besseren Magen. Ich sah ihm zu, wie er genüßlich sein Huhn aufaß, und hielt mich mehr an den herrlichen Wein.
Als Melville fertig war, steckte ich mir
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