013 - Der Kopfjäger
hatte ich in London geändert; der Schnurrbart war abrasiert, das Haar kurz geschnitten. Ich sah wie ein lungenkranker Vierzigjähriger aus und gefiel mir gar nicht, aber eine Zeitlang wollte ich diese häßliche Aufmachung ertragen.
Ich stand am offenen Fenster und starrte auf die Straße hinunter. Es war ein warmer Sommertag und kurz nach fünfzehn Uhr. Ich war schon öfters in Paris gewesen, doch mich hatte die Stadt nie besonders beeindruckt. Für mich war es eine Stadt ohne Atmosphäre – wie fast alle anderen Großstädte, in denen ich gewesen war. Als Junge hatte ich das auf mein kühles britisches Temperament zurückgeführt, doch jetzt wußte ich: Paris sprach mich einfach nicht an, es ließ mich kalt, genauso kalt wie Rom.
Vor etwas mehr als drei Jahren, als ich noch als freiberuflicher Journalist gearbeitet hatte, war ich von einer großen, englischen Illustrierten beauftragt worden, eine Artikelserie über einige europäische Großstädte zu schreiben und die Städte so zu zeigen, wie sie wirklich sind. Ein unmögliches Unterfangen, da jeder Mensch eine andere Ansicht über eine Stadt hat. Da ich damals wegen einiger besonders bösartiger Artikel bekannt geworden war, die ich unter einem Pseudonym geschrieben hatte, war mir gleich klar gewesen, was der Chefredakteur wollte. Ich schrieb also in drei Fortsetzungen einen ätzenden Bericht über Paris, der mit sämtlichen Klischees aufräumte. Mir kamen die Franzosen genauso kleinkariert wie die Briten vor.
Vor drei Jahren war ich überhaupt noch viel aggressiver und bösartiger gewesen. Ich hatte damals auch über London einen Bericht für eine amerikanische Zeitschrift verfaßt, der es ebenfalls in sich gehabt hatte. Wochen danach wollten noch immer einige Leute nichts von mir wissen.
Ich grinste und schnippte die Zigarette auf die Straße. Das war alles lange her. Eine Ewigkeit, wie mir schien. Jetzt konnte ich über derlei Dinge nur noch lächeln. Mein Leben hatte sich grundlegend verändert. Es wurde im Augenblick nur von dem Kampf gegen die Dämonen beherrscht.
Ich verließ mein Zimmer, ging in die Bar des Hotels, trank ein Bier und aß zwei Sandwiches. Fünfzehn Minuten später trat ich auf die Avenue de Verdun hinaus. Ich blieb kurz stehen, blickte mich um, überquerte die Rue de Faubourg St. Martin und kaufte mir beim Ostbahnhof eine druckfrische Nummer des France Soir .
Lässig klemmte ich mir die Zeitung unter den Arm und setzte mich in ein Café. Ich bestellte eine Tasse Kaffee und stierte vor mich hin. Mir war noch nicht ganz klar, wie ich meinen Bruder aufspüren sollte.
Nachdenklich schlug ich die Zeitung auf. Kopfjäger in Paris? lautete die Überschrift. Interessiert las ich den langen Artikel. Er war recht gut geschrieben, voll beleidigender Angriffe gegen die Polizei. Ich las ihn nochmals, nippte am Kaffee und verarbeitete die Fakten, die der Bericht enthielt. Innerhalb einer Woche waren in Paris vierzehn Leichen ohne Kopf gefunden worden. Begonnen hatte die Schreckensserie mit einem Autounfall außerhalb von Paris. In einem Wrack hatte man die kopflose Leiche des Handelsvertreters Pierre Gormat gefunden. Es hätte wie ein Dutzendunfall ausgesehen, wenn nicht der Kopf des Toten verschwunden gewesen wäre. So war es später auch mit den anderen Opfern. Sehr scharfsinnig vermutete die Polizei, daß alle Verbrechen von ein und demselben Täter ausgeführt worden waren. Die meisten Opfer waren einfache Leute gewesen: Arbeiter, Angestellte. Nur eines fiel aus der Reihe: Gilbert Sanson, angeblich ein Nachfahre des berüchtigten Henkers von Paris, Charles-Henri Sanson, der sich während der französischen Revolution einen Namen gemacht hatte.
Ein Detail, das nur am Rande erwähnt wurde, interessierte mich besonders. Die kopflosen Leichen waren immer völlig ausgeblutet, und am Tatort fand man keinen Tropfen Blut. Sollte hinter diesen geheimnisvollen Verbrechen mein Bruder Frederic de Buer stecken? Auszuschließen war es nicht. Ich wußte nicht viel über ihn, nur daß er ein Vampir war – und ein Serologe. Es konnte nichts schaden, wenn ich mich mit dem Reporter, der den Artikel geschrieben hatte, in Verbindung setzte. Der Bursche hieß Armand Melville.
Das Telefon stand auf der Bar. Ich klemmte mir den Hörer zwischen Schulter und Kinn und wählte die Nummer des France Soir . Er war nicht in der Redaktion. Ich sagte, daß ich es in einer halben Stunde nochmals probieren werde. Ich blieb an der Bar sitzen, trank noch einen Kaffee und
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