014 - Draculas Höllenfahrt
Lilian
Bowman warf einen raschen Blick auf das Zifferblatt ihrer Uhr. Wenige Minuten
vor Mitternacht. Der Atem stockte ihr. Sie hörte leise Schritte auf dem Gang.
Das Geräusch näherte sich ihrer Tür. Lilian merkte, wie es sie eiskalt
überlief. Langsam drehte sie sich um. Ihre Augen schienen von innen heraus zu
glühen. Er kam zu ihr?
Sie
schluckte und war unfähig, einen Schritt zu gehen. Sie drängte sich an das
Fenster, und die Kälte kroch durch das hauchdünne, fast durchsichtige
Nachtgewand, das sie am Körper trug. Die Klinke ihrer Zimmertür wurde
herabgedrückt in beinahe quälender Langsamkeit … Dann hob sich die Klinke
wieder. Atemlos starrte Lilian Bowman zur Tür. Die Schritte entfernten sich,
und plötzlich bewegte sich der Schlüssel des Nachbarzimmers.
Die
Angeln quietschten leise, dann fiel die Tür wieder ins Schloß.
Sekundenlang
hielt Lilian den Atem an, ehe sie hörbar die Luft durch die Nase blies. Ihr
Körper spannte sich und sackte dann wie unter einer Zentnerlast zusammen.
●
Jetzt war der entscheidende Augenblick gekommen. Obwohl die Angst
zunahm, zögerte sie keine Sekunde mehr, ihren Plan in die Tat umzusetzen.
Mechanisch griff sie zum
Morgenmantel, der in der Gewebestärke ihr dünnes Nachtgewand kaum übertraf.
Lilian öffnete vorsichtig das
Fenster. Vor dem Zimmer lief ein schmaler Balkon um das Haus herum. Ihr Raum
war ursprünglich mit einer Tür versehen gewesen, aber die hatte man später
zugemauert.
Dies war für Lilian natürlich kein
Hindernis. Sie stieg geschwind und grazil auf die Fensterbank. Der Regen durchnäßte
sie im Nu, und das Nachthemd lag wie eine zweite Haut auf ihrem schlanken,
wohlgeformten Körper, Ihre weiblichen Konturen zeichneten sich schattengleich
darunter ab.
Dicht an die rauhe Wand gepreßt,
näherte sich Lilian den Fenstern des angrenzenden Raumes.
Schwacher Lichtschein fiel auf den
Balkon. Ein Schatten bewegte sich im Zimmer.
●
Lilian beugte sich vor. Ihr Herz
schlug rasend. Was sich ihren Augen bot, glich einem erregenden Filmstreifen.
Auf dem breiten Bett saß Edith,
eine junge schwarzhaarige Schönheit. Ein Mischling, die Haut wie braune Sahne.
Neben ihr ein Mann. Lilian sah nur
seinen Rücken.
Die beiden Menschen –
engumschlungen – hielten die Augen geschlossen. Die Lippen des Mannes glitten
über Ediths Gesicht, ihren Nacken und blieben dort zitternd hängen. Das
Mienenspiel der Geküßten war ein Spiegel starker Empfindungen.
Lilian zweifelte an ihrem Verstand,
als der Mann sich langsam von seiner Geliebten umwandte, als er den Kopf ein
wenig zur Seite drehte. Seine Augen schimmerten blutigrot, und Blut klebte an
seinen Lippen!
Das Grauen war vollkommen.
Abscheu, Ekel und Verwirrung
bildeten ein wirres Durcheinander. Lilian war das alles ein Rätsel.
Halluzination! Das Gaukelbild eines
kranken Gehirns?
Edith – das Opfer eines Vampirs?
Lilian Bowman zog den Kopf zurück.
Ihre Reaktion folgte einen Augenblick zu spät.
Der Unheimliche hatte sie gesehen!
●
Ein eiskalter Schauer lief über
ihren Rücken.
Lilian Bowman wußte, daß es nur
eines gab: Flucht!
Für den Bruchteil einer Sekunde
spielte sie mit dem Gedanken, durch das Zimmer zurückzugehen, quer über den
Gang, dann die Treppen hinab, um den Park aufzusuchen.
Die Tür ihres Zimmers flog auf.
Eine dunkle Gestalt stürzte in den Raum.
Der Unheimliche schien den gleichen
Gedanken gehabt zu haben wie Lilian Bowman. Er rechnete damit, daß die junge
Patientin, die unerwartet Zeuge des nächtlichen Vorfalls geworden war, den Weg
über die im ersten Stockwerk liegende Balkonbrüstung nicht wagen würde.
Aber er hatte sich getäuscht.
Die Angst und die Verzweiflung
gaben der jungen Schauspielerin einen Mut, den sie selbst nie für möglich
gehalten hätte.
Sie stieg auf die Brüstung. Eine
Armlänge von ihr entfernt ragten die knorrigen, schwarzen Äste einer uralten
Eiche in den nächtlichen Himmel.
Die Fliehende atmete schwer. Um
Fingerbreite nur war der kräftige Ast zu weit entfernt.
Mit flackernden Augen blickte
Lilian sich um.
Vor ihr die tödliche Tiefe – hinter
ihr der unheimliche Vampir …!
Lilian Bowman setzte den Fuß auf
den schmalen Mauervorsprung. Mit zitternden Händen krallte sie sich ins
Mauerwerk. Ihre Fingernägel brachen ab.
Sie verlor wertvolle Sekunden, aber
sie gewann auch wertvolle Zentimeter, die sie – risikoreich genug – dem
rettenden, weitverzweigten Baum, der ihr als Leiter in die Tiefe
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