Gretchen
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Als Gretchen Morgenthau aufwachte, fiel ihr der Himmel auf den Kopf und es fehlte nicht viel, da wäre Gott gleich mitgefallen. Sie hatte noch zwei Tage zu leben. Vielleicht drei. Schnupfen. Unheilbar. Endstadium. Die Nase war geschwollen und purpurrot. Auch der Bauch gebar sich aufmüpfig, rumorig und von Größenwahn getrieben. Die Viren schienen aus allen Nähten zu platzen, als fühlten sie sich nicht mehr wohl in diesem Körper, als bräuchten sie Frischluft. Sie ließ Dr. Mandelberg kommen, der eine Etage unter ihr seinen Ruhestand genoss und der ihr Rufen nie unbeantwortet ließ. Es hieß, er habe eine Schwäche für die Frau Intendantin, es könnte aber auch Demenz gewesen sein. Denn jeden Tag aufs Neue schob er heimlich einen kleinen Zettel unter ihrer Wohnungstür hindurch, handbeschriftet, mit schwarzer Tusche voller Rußpigmente, und auf den Zetteln standen kleine, rätselhafte Botschaften. Und die klangen so: Sie sind mein Lieblingsmädchen, für immer. Oder: Wären Sie ein Tier, wären Sie ein Regenbogen. Oder: Ohne Euch ist der Mond wie Löwenzahn. Zudem bestäubte er das Aquarellpapier von Hahnemühle mit einer Tinktur aus Sandelholz und Bergamotte. Und auch wenn er die Zettel nie unterschrieb und er immer ein kleines Geheimnis um die Urheberschaft machte, so war doch jedem im Haus bewusst, welcher Absender hier am Werke war. Dr. Mandelberg aber war kein Zurückgebliebener, er wusste, dass seine Chancen nicht die allerbesten waren, die Hoffnung aber starb auch bei ihm zuallerletzt. Gretchen Morgenthau hatte vor vielen, vielen Jahren einmal klargestellt, dass eine Liaison für sie unter keinen Umständen in Frage käme. Nicht einmal in ihren Träumen. Und in seinen besser auch nicht. Dr. Mandelberg war fast ein Jahr älter als sie, da hatte er nicht ernsthaft annehmen können, sie würde mehr als nur Mitleid empfinden. Obgleich er immer recht adrett aussah, wenn er mit seinem Köfferchen aus grob gegerbtem Rindsleder aufmarschierte, in seinen altmodischen Cordanzügen, die, obwohl immer eine Nummer zu groß, ihm dennoch irgendwie standen, wie auch an jenem Tag, als der Schnupfen ihrem Leben ein jähes Ende setzte. Viel konnte Dr. Mandelberg nicht tun, er konnte nie viel tun, er war ja Arzt. Er tastete ihren Bauch ab und sagte, sie habe eine Verstopfung und solle Kamillentee trinken. Kurpfuscher, fluchte sie, Kurpfuscher. Woraufhin Dr. Mandelberg erwiderte, er fände alleine hinaus.
Gretchen Morgenthau schaute aus dem Fenster, sie lauschte den Schritten und hörte, wie in Höhe der Hortensie am Ende des Bücherregals der Boden knirschte, wie er es immer tat, in ihrer Altbauwohnung oben im Norden der Stadt, mit Blick in den Park, der im Winter immer so traurig aussah, als sei er verlassen worden. Seit sie nach London gezogen war, lebte sie hier, in der zweiten Etage, auf knappen 120 Quadratmetern, kein Palast, sicher, aber für eine Person gerade eben ausreichend. Sie hatte eine Schwäche für Bescheidenheit. Und das Notwendigste war ja vorhanden. Stuck, Flügeltüren, Holzdielen, kleine Kostbarkeiten von Bekannten wie Jasper Morisson und Ettore Sottsass, das Lieblingssofa von Jaime Hayon, an den Wänden de Kooning, Reinhardt, Pollock, keine wirklichen Überraschungen, Standard für eine Dame ihres kulturellen Ranges. Als die Wohnungstür ins Schloss fiel, seufzte sie schwer, der Schnupfen war besiegt, aber sie würde ein Auge auf ihn haben, da konnte er sicher sein. Sie schleppte ihren vom Kampf geschwächten Körper in die Küche, schüttete Kaffee auf und schaltete das Radio ein. So leise, dass Bachs Etüden kaum zu hören waren. Sie hielt sich gerne in der Küche auf, sie war ein Küchenmensch, immer gewesen, sie liebte das gesellige Beisammensein inmitten duftender Kräuter und klappernden Geschirrs. Doch als sie den Kühlschrank öffnete, machte sie eine entsetzliche Entdeckung: Die Erdbeeren hatten Schimmel. Nicht die oberen in der Schale, die sahen großartig aus, ein sattes, majestätisches Rot, von grünem Blattwerk behängt, das an kitschige Postkarten aus Killarney erinnerte. Doch schon eine Lage darunter vermehrten sich Pilze in einem Tempo, dass selbst professionellen Karussellfahrern schwindelig wurde. Einen Tag alt und schon Schimmel. Wie nur sollte sie ihren Joghurt essen ohne Erdbeeren? Banane war erst letzte Woche, und Kiwi, ja Kiwi, dafür musste sie in Stimmung sein, das ging nicht so einfach, da hätte man ja gleich von ihr verlangen können, sie solle es mal mit Brombeeren
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