015 - Das Blutmal
Professor!« sagte sie schroff. »Ihrer Intelligenz hätte ich klarere Einsichten zugetraut. Eine Hexe! Ich! Wo die Aufklärung schon mit diesem Spuk reinen Tisch gemacht hatte. Und jetzt wollen Sie behaupten, es gäbe Hexen?« Wie eine wütende Tigerin stand sie vor Idusch. »Ich bin ein lebensfrohes Mädchen, verstehen Sie? Ich wollte nur friedlich leben. Ich liebte meinen Veit. Und Sie und er und Menz und alle anderen – sie alle machen mich verrückt. Verstehen Sie? Verrückt!«
Sie keuchte. Schweiß rann über ihr Gesicht. Böse starrte sie Idusch an, der die Augen schloss und sich wünschte, auch nichts zu hören.
»Im Mittelalter hat man die armen Mädchen und Greisinnen grausam gefoltert, bis ihre armen Körper zerrissen. Und was machen Sie? Sie foltern mich geistig. Jawohl! Sie treiben mich mit Ihren teuflischen Verdächtigungen zum Wahnsinn.«
Mit einem wilden Aufschrei setzte sie sich auf den Couchrand und begann zu weinen.
Idusch schwankte zwischen Mitleid und Grauen. Rückwärts gehend erreichte er die Zimmertür.
»Ich kenne einen hervorragenden Psychiater«, sagte er. »Soll ich ihn einmal vorbeischicken?«
»Meinetwegen schicken Sie den Teufel vorbei!« brüllte Anna, wobei ihre Adern auf der Stirn und am Hals anschwollen.
Fluchtartig verließ Idusch die Wohnung.
Veit fröstelte. Kalte Finger schienen über sein Rückgrat zu streichen. Traum und Realität verwischten sich. Er schlug die Augen auf. Um ihn war es dunkel. Doch er wusste genau, dass er beim Einschlafen als letztes das Licht der Leselampe über dem Schreibtisch gesehen hatte. War der Professor zurückgekommen und hatte das Licht gelöscht und ihn nicht stören wollen?
Veit rappelte sich langsam aus dem Sessel hoch, tastete sich zur Tür und suchte den Lichtschalter. Er knipste den Schalter nach unten. Nichts. Es blieb dunkel.
»Professor Idusch!« rief er.
Er erhielt keine Antwort. Seine aufgerissenen Augen durchforschten die Finsternis. Er glaubte auf dem Flur einen schwachen Lichtschimmer zu erkennen und ging gebückt hinaus.
Sein furchtbarer Schrei erschreckte ihn selbst.
Auf dem runden Tisch stand die Wachspuppe mit dem Nagel. Das Todessymbol umgab ein grüngelber Lichterkranz.
»Du spinnst, du spinnst!« versuchte Veit sich laut eine Sinnestäuschung einzureden.
Er nahm allen Mut zusammen und schritt auf den Tisch zu. Mit geballter Faust schlug er auf die Puppe – und schlug ins Nichts. Das Licht verhöhnte ihn. Veit beugte sich vor und trommelte mit beiden Fäusten auf die Tischmitte. Er geriet in Raserei und hörte erst auf, als seine Hände schmerzten. Jetzt glaubte er, auch leises Lachen zu hören. Er presste die Hände gegen die Ohren und senkte den Kopf. Bloß nicht mehr dieses Licht sehen!
Er wollte zur Haustür laufen, allein die Füße versagten ihm den Dienst. Eine fremde Macht bewegte ihn auf einmal vorwärts, aber nicht in Richtung Haustür, sondern in das Arbeitszimmer zurück.
»Anna! Anna!« schrie Veit.
Plötzlich sah Veit ein Ölbild an der Wand, ein großes Gemälde, ein Waldstück. Der goldene Rahmen leuchtete phosphoreszierend.
Die gleiche Kraft, die ihn ins Zimmer getrieben hatte, zwang ihn jetzt, das Bild abzuhängen. Auf der kahlen Wand glänzte ein dicker, nach oben gekrümmter Nagel. Auf dem rostigen Kopf schien ein Auge zu sitzen, das Veit hypnotisierte. Ein gelbes Auge. Es zwinkerte Veit zu, der automatisch seinen Gürtel abband und in den Händen hielt.
Die Veit treibenden unheimlichen Kräfte gewannen immer mehr Macht über ihn. Er vermochte sich nicht gegen sie zu wehren, doch er ahnte, wohin sie ihn treiben wollten. Die höllischen Mächte, von Annas Wunschdenken aufgepeitscht, forderten sein Leben.
Veit ließ sich rückwärts fallen, aber die ihn umgebende Luft schleuderte ihn mit federnder Gewalt zurück. Seine Hände zerrten an dem Ledergurt. Er öffnete die Hände, doch der Riemen schwebte vor seinen Händen, die ihn wieder ergriffen und eine Schlinge knoteten.
Um den Nagel bildete sich ein roter Lichterkranz.
»Das Todesurteil«, murmelte er verzweifelt.
Vor seinem geistigen Auge erstand noch einmal das Bild Annas. Er sah ihre liebliche Gestalt von einst, das Gesicht, das er so sehr geliebt hatte; er hörte ihre fröhliche Stimme, ihr heiteres Lachen. Dann verschwammen die Konturen zu schwarzem Brei, und die süßen Töne verwandelten sich in ein dissonantes Gekreische.
Ein Schlag in den Rücken trieb ihn vorwärts. Jetzt stand er unter dem weit aus der Wand
Weitere Kostenlose Bücher