0154 - Staatsgeheimnis
lautlos in die ebenso winzige Garderobe und von da in das Wohnzimmer.
Es mutete fast wie ein Witz an: die gleichen Möbel, die gleichen Teppiche, die gleichen Vorhänge, ja sogar das gleiche Seriengeschirr in der Kochnische.
Wir begannen eine systematische Haussuchung vorzunehmen. Damit uns draußen im Flur niemand bei unserer Arbeit hören sollte, hatten wir die Tür zwischen Garderobe und Wohnzimmer zugemacht. Und das war entschieden ein Fehler…
»Nimm du die rechte Hälfte, ich die linke«, sagte Phil.
»Okay.«
Ich beschäftigte mich mit einer Kommode. Im obersten Fach enthielt sie einen Stapel von blütenweißen Oberhemden. Für einen Gangster war diese Sauberkeit immerhin überraschend. Rolly Primes schien nie zu den Assen der Unterwelt gezählt zu haben, umso überraschender war seine Sauberkeit, wie sich mit jeder weiteren Schublade zeigte. Fein säuberlich sortiert lagen Taschentücher, Leibwäsche, Socken, Ziertücher, Handschuhe und andere Gebrauchsartikel des Alltags in den einzelnen Fächern.
Ich fing an, das oberste auszuräumen. Ich sah unter jedes Hemd, und ich hob sogar das Wachspapier hoch, mit dem die Schublade ausgelegt war. Außer einem Manschettenknopf, den er wahrscheinlich schon einmal verzweifelt gesucht hatte, wie das bei diesen Dingen nun einmal der Fall ist, war nichts zu entdecken.
Das zweite Fach enttäuschte ebenso wie das erste. Aber im dritten stieß ich ganz rechts hinten in der Ecke auf eine Ansammlung von Postkarten. Sie waren alle in New York abgestempelt, und zwar hieß der Poststempel New York 16. Das ist der Bezirk von Murray Hill, zwischen der 26sten und 40sten Straße und östlich der Fifth Avenue. Es ist eine der vornehmsten Gegenden von ganz Manhattan.
»Phil, sieh dir das mal an!«, sagte ich und hob das Päckchen Postkarten hoch.
Phil kam herüber, nahm die Karten in die Hand und warf, genau wie ich, zuerst einen Blick auf den Poststempel.
»Murray Hill!«, staunte mein Freund. »Wieso kriegt ein Gangster Postkarten aus so einer vornehmen Gegend?«
»Das frage ich mich ja auch. Zeig mal die Karten her!«
Wir lasen sie der Reihe nach. Es waren insgesamt sechs. Die erste stammte vom 2. Februar, und sie war noch an Primes Adresse in der Bronx gerichtet. Der Text lautete: »Lieber Rolly, leider muss ich Dir mitteilen, dass Onkel John jetzt krank geworden ist. Die Ärzte sagen zwar, es würde schön wieder werden, aber wir sind doch sehr besorgt, ob es nicht vielleicht schlimmer ist, als sie zugeben wollen. Sobald wir etwas Genaueres wissen, schreibe ich es Dir sofort. Deine Tante I. M.«
»Komische Art«, brummte Phil. »Seit wann schreiben Tanten nicht einmal mehr ihren Vornamen aus?«
Die beiden nächsten Karten stellten übereinstimmend fest, dass Onkel John noch immer krank wäre und sich bisher auch keine Besserung gezeigt habe.
Die vierte Karte war datiert vom 25. Februar. Ihr Text lautete: »Lieber Rolly, soeben haben wir erfahren, dass Onkel John innerhalb der nächsten zehn Tage operiert werden muss. Die Operation soll sehr viel Geld kosten. Was meinst Du, was der Arzt fordert? Hoffentlich bleibt er im Rahmen, sonst müssten wir auf die Operation verzichten. Tante I. M.«
Phil sah mich an.
»Ich gehe freiwillig für fünf Jahre nach Sing-Sing, wenn hinter diesem Text nicht etwas anderes steckt!«
»Zeig die nächste Karte!«, sagte ich. Mir war ein Gedanke gekommen.
Phil hob die fünfte Karte hoch, und wir lasen den Text: »New York, 27. Februar. Lieber Rolly, der Arzt hat seine Forderung bekannt gegeben. Es ist uns zu viel. Wir wollen ihm den Vorschlag machen, ob er nicht mit dreitausend Dollar für jede Person, die zur Operation benötigt wird, auskommen kann. Das ist doch auch viel Geld, nicht wahr?«
Darunter kamen noch ein paar Phrasen und dann der übliche Gruß einer Tante, die eine merkwürdige Scheu hatte, ihren Namen auszuschreiben. Auch eine Absenderangabe gab es auf keiner Karte.
Gespannt griffen wir zur sechsten und letzten Karte: »Lieber Rolly, jetzt ist alles geregelt. Die Operation wird am 3. März, vormittags gegen elf, stattfinden. Wir sind damit einverstanden, nachdem sich der Arzt mit unserem Angebot einverstanden erklärt hat. Hoffentlich wird alles klappen. Deine Tante I. M.«
Phil sah mich groß an. Ich steckte mir eine Zigarette an, nachdem Phil ablehnend den Kopf geschüttelt hatte, und sagte: »Ich denke, dass der wirkliche Sinn dieser Karten gar nicht so schwer zu enträtseln ist.«
»Wenn du hellseherische Momente
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