040 - Die Faust Gottes
Seine Stiefel stampften in die blattlosen Winden auf dem Geschützturm des verrotteten Panzers. Speichel löste sich aus seinem schlohweißen Bart, wenn er den Kopf hin und her warf, um jeden seiner Zuhörer, aber auch wirklich jeden mit seinen glühenden Blicken festzuhalten. Die Faust schwang er wie eine Keule und tänzelte dabei umher, sodass die Schöße seines ehemals schwarzen Ledermantels flatterten und das Silberkreuz über seiner Brust pendelte. Die Hände der Frau an seiner Seite zuckten manchmal zu seinem großen Körper hin, als wollte sie ihn halten, als fürchtete sie, er könnte von seiner rostzerfressenen Kanzel stürzen.
Aber er stürzte nicht - o nein! Niemand hatte Reverend Pain je stürzen sehen, nicht von irgendwelchen Trümmern, die er sich als Kanzeln suchte, nicht in irgendwelche Krater, nicht in irgendwelche Abgründe der Sünde.
»Dies ist das Wort des HERRN durch den Propheten Zefanja!« Mit einem Stimmvolumem, das man seiner alten knochigen Gestalt nicht zugetraut hätte, schlug Pain seine Hörer in den Bann. »Und weiter spricht ER: Ihre Güter sollen zum Raub werden und ihre Häuser verwüstet! Sie werden Häuser bauen und nicht darin wohnen, sie werden Weinberge pflanzen und keinen Wein davon trinken…!«
Rötliche Düsternis lag über der Trümmerlichtung, über der ganzen Ruinenstadt, obwohl der Mittag gerade erst vorüber war. Frostkrusten breiteten sich am Rand des Feldes aus, und auf den Mauerkronen zerklüfteter Hausfassaden sah man da und dort Schneereste, obwohl es Frühsommer war.
Rechts und links des Treppenabgangs zu einer ehemaligen Underground-Station qualmten zwei Feuer. Halbwüchsige warfen Brennnesselblätter in den Kessel, der auf einem Metallgestell über den Flammen des rechten dampfte. Und über der Glut des linken drehten Frauen Spieße mit geschlachteten Tieren. Fett tropfte von den gehäuteten, ausgenommenen Körpern und verbrannte zischend im Feuer. Wie junge Schweine sahen die Braten aus. Es waren aber keine jungen Schweine, es waren Ratten!
»So spricht der HERR durch den Propheten Zefanja!« Der hochgewachsene Greis auf dem Panzer reckte den Zeigefinger gen Himmel. »Der große Tag des HERRN ist nahe, er ist nahe und eilt sehr…!«
Ausgemergelte Gestalten waren es, die sich da vor dem Panzer versammelt hatten, meist Männer. Löchrig ihre Jacken und Mäntel - die meisten trugen mehrere Schichten übereinander, denn es war verflucht kalt. Eingefallen waren ihre fahlen Gesichter, fettig und verfilzt ihr langes Haar und ihre Bärte, tief in den Höhlen liegend ihre Augen. Die meisten von ihnen hatten ihre Kindheit in Kellern und U-Bahn-Schächten oder in der ehemaligen Kanalisation von London verbracht.
Die Eltern dieser abgerissenen Menschen wussten nur von Schnee und Eis, von Hunger und Krankheit und von Tagen, die man kaum von Nächten unterscheiden konnte. Doch einige der vor dem Panzer Versammelten hatten den Erzählungen ihrer Großeltern gelauscht, hatten sie unter Tränen von Frühlingstagen und Sommernächten schwärmen gehört, von Zügen, in denen man unter der Erde von Chelsea nach Greenwich fahren konnte, von der Hochzeit des Prinzen, von der Krönungsfeier Charles des Dritten, von den Prachtbauten in der City, von Uferpromenaden, von Pferderennen, von den Fußballpokalschlachten in der alten und der neuen Wembley-Arena.
Von Zeiten, die nie wiederkommen würden.
»… denn dieser Tag ist ein Tag des Grimms, ein Tag der Trübsal und der Angst, ein Tag der Finsternis und des Dunkels!«
Mitten unter den Zuhörern thronte auf einem Motorrad ein Mann mit rötlicher Lockenmatte und dunklem Bartflaum. Ein relativ junger Mann. Über seiner rissigen Lederjacke trug er eine Weste, schmutzig, ausgefranst und mit dem Bild einer roten, gehörnten Fratze auf dem Rücken. »THE LORDS« stand in spitzen schwarzen Lettern über der Fratze. Spott spielte um die Mundwinkel des Mannes. Manchmal stieß er sogar ein verächtliches Lachen aus. Dann fuhren die Köpfe der Umstehenden herum und ihre Blicke richteten sich auf den Motorradmann.
Etwas abseits standen sieben Männer, die sich ganz in weißes Fell gehüllt hatten. Fremde - erst vor wenigen Tagen hatte ihr Schiff in der Ruinenstadt angelegt. Die meisten von ihnen schienen gar nicht auf den Prediger zu achten. Sie hatten nur Augen für die Frau neben ihm. Eine junge Frau mit schönen Gesichtszügen, aber blasser, fast durchscheinender Haut. Sie trug eine Art schwarzer Robe, die ihr bis zu den Knöcheln
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