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02 Ich bin so Fry: Meine goldenen Jahre

02 Ich bin so Fry: Meine goldenen Jahre

Titel: 02 Ich bin so Fry: Meine goldenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Fry
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der im Kino Popcorn vertilgt: glasiger Blick, die Hand hebt sich und fällt, Packung zum Mund, Packung zum Mund, Packung zum Mund, wie bei einer Maschine.
    »Glasiger Blick«. Ist das von Bedeutung? Kinder an der Brust oder an der Flasche haben diesen Blick. Es ist etwas Sexuelles an derart ungerichteter Konzentration. Bis ich acht oder neun wurde, lutschte ich die ersten beiden Finger meiner linken Hand. So gut wie immer. Während ich mit den Fingern der rechten Hand mein Haupthaar zwirbelte. Und das stets mit diesem glasigen, sich in der Ferne verlierenden Blick, mit geöffneten Lippen und schwer atmend. Schenkte ich mir selbst jene Brustlust, die mir verweigert worden war? Dies sind dunkle Wasser, Watson.
    Auf Zerealienpackungen abgedruckte Listen der Inhaltsstoffe und Serviervorschläge waren mein Lesestoff, Thiamin, Riboflavin und Niacin meine mysteriösen unsichtbaren Freunde. Stets nach Gewicht gehandelt, nicht nach Volumen. Der Inhalt hat sich möglicherweise beim Transport unten abgelagert. Einen Finger unter die Lasche schieben und hin und her bewegen. Die sind Kl-a-s-s-s-s-s-se! Wir mögen Ricicles, die sind Zweicicles so gut wie Neicicles. Und wie das stimmte! Sie waren sogar, wie ich gern verkündete, Dreicicles so gut wie Neicicles. Auf jeden Fall aber viel neicicler als ihrebiederen ungesüßten Eltern, die Rice Krispies, die Zerealien, die, wenn man genau hinhörte, Snot, Pickle and Crap – Rotze, Beize und Scheiße sagten. Sich mit Rice Krispies zufriedenzugeben, wenn man Ricicles haben konnte, Cornflakes zu essen, wenn man Frosties haben konnte – wer könnte sich ein so langweiliges Leben ausmalen? Als entschiede man sich bewusst dafür, die Fernsehnachrichten anzusehen oder ungesüßten Tee zu trinken. Ich lebte für das Eine und Einzige: C 12 H 22 O 11 . Vielleicht ist das der Grund, warum ich Amerikaner hätte sein sollen, denn drüben in den Vereinigten Staaten verwenden sie überall Zucker. Im Brot, in abgefülltem Wasser, im Beef Jerky, in Mixed Pickles und Mayonnaise, in Senf und Salsa. Zucker, Zucker, Zucker.
    Meine Beziehung zu dieser betörenden und im Dunkeln wirkenden Substanz ist kompliziert. Zucker ist mein Lebenszweck, allein um seinetwillen wurde ich geboren. Doch beinahe hätte er mich auch umgebracht.
     
    An anderer Stelle † habe ich davon erzählt, welche Rolle der Vater meiner Mutter beim Import von Zucker nach Großbritannien spielte. Durch die Teilnahme an
Who Do You Think You Are?
, dem BBC-Programm zur Familienforschung, habe ich später noch mehr herausgefunden. Mein Großvater Martin Neumann kam von weither nach Bury St. Edmunds. Ursprünglich in Ungarn geboren, wurde seine Heimatstadt Nagysurány durch den Vertrag von Trianon 1920 in die sich erweiternde Tschechoslowakei eingegliedert. In historischem Sinn stammte er jedoch aus Ungarn, und er wies immer wieder gern darauf hin, dass ein ungarischer Jude der einzige Mensch sei, der jemanden in einer Drehtür überholen könne.
    Nach Großbritannien kam er auf Einladung des Landwirtschaftsministeriums in Whitehall, in dem besonders vorausschauende Beamte erkannten, dass im Fall eines zunehmend wahrscheinlichen neuen Weltkriegs der Atlantik wohl kaum mehr passierbar sein würde, wie auf dem Höhepunkt der Bedrohung durch die deutschen U-Boote 1917 fast schon geschehen. Die Westindischen Inseln und Australien wären nicht mehr erreichbar, und es gäbe keinen Zucker mehr für die britische »Tasse Tee« – eine Katastrophe, zu grausig, um sie sich auszumalen. Großbritannien verfügte über keine eigene Zuckerkapazität, denn die Landwirte hatten noch nie auch nur eine einzige Zuckerrübe angebaut und die Industriellen hatten noch keine Unze raffiniert. In Nagysurány jedoch, inzwischen Šurany, war mein Großvater der Manager der damals größten Zuckerraffinerie der Welt gewesen und schien daher ein natürlicher Kandidat für die britische Anwerbung zu sein. 1925 trafen er und sein Schwager Robert Jorisch ein, um die erste Zuckerrübenraffinerie für Großbritannien aufzubauen, und zwar in Bury St. Edmunds, wo sie bis heute steht und einen satten und bitteren Mief verbreitet, der entfernt an verbrannte Erdnussbutter erinnert. Wäre Martin mit seiner Frau und Familie in Šurany geblieben, wären sie als Juden ebenso in den Vernichtungslagern der Nazis umgebracht worden wie seine Mutter, seine Schwester, seine Schwiegereltern und Dutzende weiterer Familienangehöriger, die auf dem Kontinent geblieben waren. Ich wäre nie

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