02 Winter am Ende der Welt
Leihwagen – das muss der von Jorge sein – am Straßenrand vorm Haus.
Tja. Meine Vergangenheit und meine Zukunft gemeinsam vor der Haustür. Oha. Nichts in meinem Leben hat mich auf so einen Moment vorbereitet. Ich habe keine Verhaltensregeln für so einen Fall gelernt. Ich muss da jetzt einfach improvisieren. Und wieso sind sie eigentlich beide zusammen hier vor der Tür?
„Ihr kennt euch?“, frage ich, noch immer fassungslos.
„Nein“, sagen beide, praktisch gleichzeitig.
„Aber du könntest uns vielleicht vorstellen?“, sagt Jorge.
„Jorge, das ist Carl Lawrence“, sage ich und zeige auf Carl. „Und Carl, das ist Jorge Monteiro“. Und zeige auf Jorge.
Nähere Erklärungen gebe ich nicht ab. Vielleicht komme ich ja so damit durch. Die beiden nicken sich zu, wissen auch nicht, was sie sagen sollen.
„Also, ich muss dann ...“, sagt Carl und geht zu seinem Van. Er steigt ein, lässt die Scheibe runter und sagt: „Heute Abend um acht auf der Farm?“
Ich nicke. Carl fährt. Jorge sieht ihm hinterher.
Das ist also mein Mann. Mein Noch-Mann. Schon so gut wie Ex-Mann. Mein Scheidungspartner. Der Vater meiner Kinder. Nicht nur meiner. Und der Gedanke katapultiert mich wieder ins Hier und Jetzt.
„Wie kommst du denn hierher?“, frage ich.
„Erst Taxi, dann Flugzeug, dann Leihwagen“, sagt Jorge.
Senhor Monteiro in spontaner Mission. Wer hätte das von Jorge gedacht. Da zeigt die Familie Monteiro ganz ungeahnte Seiten. Erst macht Schwiegermama so eine Spontan-Reise. Und dann der Sohn. Eins so unwahrscheinlich wie das andere.
Ja, wenn es sowas wie indirekte Bonusmeilen gebe, dann hätte ich diesen Winter gut was eingesammelt, selber bin ich ja nur einmal geflogen, das heißt, im Grunde waren es dreimal. Lissabon – Vancouver, und dann Vancouver – Lissabon hin- und zurück. Aber dazu kommen ja noch die ganzen Flüge, die ich ausgelöst habe, von Clara über Schwiegermutter bis Jorge, da kommt ganz schön Flugmeilen zusammen, wenn man alle zusammenzählt, die wegen mir durch die Gegend geflogen sind.
Komisch, da ist sofort dieses vertraute Gefühl Jorge gegenüber.
In Jorges Gegenwart spüre ich mein ganzes Leben. Mein Gott, der kennt ja noch die ganz frühe Jasmin, die Jasmin mit einigen Kilos weniger und langen Haaren und Pferdeschwanz, die Jasmin ohne Falten, die Romanistik-Studentin-Jasmin, die an der Hamburger Uni erst mit Sätzen wie queria uma bica e um bolo und später mit Texten von Miguel Torga kämpft. Und schon fällt mir unser erstes Date ein. Ein unverfängliches Nachmittagsdate – bei Café Lindner in Eppendorf. Eine vorsichtige Annäherung. Bei Nusskuchen und Zitronentorte. Ob es das Café noch gibt? Das wird es wohl noch geben, der alte Kellner dagegen wird nicht mehr da sein, der muss ja längst tot sein, der war ja damals schon ziemlich alt, aber das Café wird es wohl noch geben, das sollte ich mal googlen ...
„Ich möchte ja zu gerne wissen, was du jetzt denkst“, sagt Jorge.
„Ich denke gerade, ich sollte googlen, ob es Café Lindner noch gibt“, sage ich.
„Ach Jasmin“, sagt Jorge und lacht. „Kann ich reinkommen, oder sollen wir hier einfach noch eine Weile stehenbleiben und warten, dass ein Bär vorbeikommt? Hier gibt´s doch Bären, oder?“
„Erst im Frühjahr wieder, jetzt sind sie noch im Winterschlaf“, sage ich, halte die Tür weit auf und wir gehen die Treppe hoch.
Ich koche einen Tee, Earl Grey, tue aber keinen Honig rein, weil Jorge keinen Honig mag, und dann sitzen wir und trinken Tee und wissen nicht, was wir sagen sollen. Jorge auf der Couch, ich auf dem Sessel. Zwischen uns der Tee und der Tisch. Wir haben uns über drei Monate nicht gesehen. Aber es ist, als wäre es gestern gewesen. Stimmt überhaupt nicht – wir haben uns zwischendurch gesehen, bei meinem Vanille-Kipferl-Trip. Aber das zählt irgendwie nicht so richtig. Zu kurz. Zu merkwürdig. Zu alles.
„Bist du noch mit der Catarina zusammen?“, frage ich.
„Und du, bist du jetzt mit diesem Carl zusammen?“, fragt Jorge.
„Es ist mitten im Semester, musst du nicht unterrichten?“, frage ich.
„Ich habe mich krank schreiben lassen“, sagt Jorge.
Hallo, das sieht ihm überhaupt nicht ähnlich, er hat sich praktisch noch nie krankschreiben lassen. Er hat ein großes Chaos auf seinem Schreibtisch und in seinem Arbeitszimmer, aber er ist korrekt, er liebt seine Arbeit, er geht gerne an die Uni, er unterrichtet gerne. Auch wenn es ihn manchmal nervt, da immer wieder
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