Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)
1
Als das Licht ausgeht, flüstert mir Rei Ellis leise zu: »Anna, geh nicht.« Er ignoriert den Fernsehbildschirm, auf dem gerade der Vorspann eines Films zu sehen ist.
»Warum?«, entgegne ich.
»Weil du dich in Schwierigkeiten bringen wirst«, sagt er und zeigt mit dem Bleistift auf den Englischlehrer, der gerade an dem Lautstärkeregler herumdreht.
Morgens auf dem Weg zur Bushaltestelle hat Rei mir erzählt, dass auf einer kleinen, unbewohnten Insel nicht weit von Hawaii gerade ein Vulkan ausgebrochen ist. Er fand das ziemlich cool – zumindest bis zu dem Moment, an dem er mich mit seiner Begeisterung angesteckt hatte.
»Tut mir leid«, flüstere ich. Und kann natürlich trotzdem nicht wiederstehen. Ich habe schon so lange auf so etwas Außergewöhnliches gewartet, denn schließlich bricht nicht jeden Tag ein Vulkan aus.
Drei andere Schüler haben ihre Köpfe schon auf die Arme gelegt und sind eingenickt. Auch ich begrabe meinen Kopf in den Armen, schließe die Augen und atme ganz tief ein. Ich schüttle Reis Blick ab und atme langsam aus. Einatmen. Ausatmen. Die Country-Geigenmusik des Filmsoundtracks wird leiser und leiser und weicht dem Klopfen meines Herzschlags und dem Rauschen des Bluts in meinen Ohren. Langsame, tiefe Atemzüge.
Ein.
Aus.
Ein.
Aus.
Das ist nicht so leicht, wie etwa einen Eiswürfel aus seiner Form zu pressen. Ich entspanne mich und gleite in einen Zustand zwischen Schlaf und Bewusstsein. Mein Körper wird immer schwerer. Das Kribbeln beginnt in meinen Zehen und kriecht meine Beine über die Knie hinauf. Es erreicht meinen Rücken und meinen Nacken, und mein Körper fühlt sich so schwer an, als würde er gleich durch den Stuhl brechen. Jetzt lasse ich los. Mein Körper bleibt liegen, aber der Teil von mir, der aus purer Energie besteht, steigt hinauf wie eine Luftblase, höher und höher, bis er meinen Körper verlässt … endlich frei!
Vor Freude vollführe ich einen unsichtbaren Luftsprung.
Rei kann sich nicht daran erinnern, seinen Körper jemals verlassen zu haben. Er hat keine Ahnung, wie schön diese unendliche Freiheit sich anfühlt. Ich habe versucht, es ihm zu beschreiben. Es ist so, als würde man nach einem langen Tag auf dem Berg die Skischuhe ausziehen. Die Füße fühlen sich dann so leicht an, als würden sie gleich wegschweben. Und nun stell dir vor, dass alles schwebt. Man ist leichter als Luft und schneller als Licht. Körper sind sehr nützlich für Dinge wie Käsekuchen essen und schwere Sachen hochheben, aber sie sind langsam und brauchen viel Pflege.
Alles hat seine Vor- und Nachteile. Meine Empfindungen sind viel intensiver, wenn ich meinen Körper verlassen habe. Der Filmsoundtrack ist lauter, der Fernsehbildschirm heller. Und alle sind von ihren eigenen, wahren Farben umgeben.
Meine Augen filtern normalerweise das Licht wie eine Sonnenbrille. Aber wenn ich meinen Körper verlasse, ist die Aura von jedem Einzelnen deutlich sichtbar. Menschen, Tiere, sogar Pflanzen sind von einer transparenten Blase aus Licht umgeben. Über die Jahre habe ich gelernt, dass die Farben mir ziemlich viel über eine Person verraten können. Rei ist gerade von einem Limonadengelb umgeben. Es sieht schön aus, aber es erinnert mich an das Gelb, das meine Mutter umgibt, wenn der Kredit für ein Haus, das sie verkauft hat, geplatzt ist.
Seufz.
Für ein paar Sekunden schwebe ich in der Luft und überlege: Soll ich meinem besten Freund zuliebe bleiben oder gehen und eine unglaubliche Vulkanexplosion sehen? Ich kalkuliere, wie gut die Chancen stehen, dass er mir vergibt, und treffe eine Entscheidung. Dann absorbiere ich ein bisschen überschüssige Energie und schnippe gegen den Stift auf Reis Tisch. Er packt ihn schnell und schreibt etwas in sein Notizbuch:
Komm nicht zu spät zurück!!!
Als ob es dort, wo ich hingehe, Uhren gäbe!
Ich brauche nur den Bruchteil einer Sekunde, um nach Hawaii zu kommen. Es ist unmöglich, den riesigen Rauchkegel am Horizont zu übersehen. Aloha, Vulkan! Ich nähere mich ganz langsam, sodass meine geschärften Sinne sich daran gewöhnen können.
Die Luft riecht wie tausend verrottende Eier, die in der Sommersonne brutzeln. Doch ich gewöhne mich schnell daran, denn es gibt so viel zu sehen. Orange, heiße Lava fließt über die Felsen. Schwarzer Rauch türmt sich über dem Krater auf, und ab und zu durchzuckt ein rotes Leuchten die schwarzenWolken. Die Hitze ist fast unerträglich. Ein scharfer Wind verteilt Asche über dem Ozean und die
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