020 - A.S. der Unsichtbare
erfahren, bevor er die Stenotypistin befragte.
»Am letzten Freitag war er zum letzten Mal hier«, sagte sie niedergeschlagen, »er hat mir mein Gehalt ausgezahlt und Geld für die Portokasse und andere Kleinigkeiten gegeben. Er sagte, daß er am Montag oder Dienstag wiederkommen werde. Ich sprach mit ihm über das Geschäft, denn wir tun eigentlich überhaupt nichts. Ich fragte ihn, wie lange dieser Zustand noch anhalten könne, bevor er das Büro ganz schließen würde. Aber er war guter Laune und erwiderte, daß er mir bald etwas Angenehmes mitteilen könne. Er sagte das in der scherzhaften Art, in der er stets mit mir zu sprechen pflegte.«
»Sie wissen, wo er wohnt?«
»Nein. Ich vermute nur, daß er sich häufig in Hotels aufhält. Er schrieb ein paar Mal, wenn er abwesend war, und gab als Absender immer ein Hotel an, obwohl ich ihm nie Briefe nachsandte. Ich erinnere mich noch an eine andere Bemerkung, die er machte, als ich ihn das letzte Mal sah. Er sagte, es sei doch merkwürdig, daß man nie etwas von Mr. Selim zu sehen bekäme.«
»Erinnern Sie sich an ein Hotel, von dem aus er Ihnen schrieb, und wissen Sie, an welchem Datum er den letzten Brief absandte?«
»Ich habe die Korrespondenz aufbewahrt. Ich dachte schon, daß Sie danach fragen würden.«
Andy durchblätterte kurz die Briefe. Es waren bekannte Hotels in den verschiedensten Teilen Englands. Er notierte die Namen.
»Haben Sie eine Fotografie von Mr. Wentworth?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wie sah er denn aus?«
In diesem Punkt war sie sehr unsicher, sie war selbst erst neunzehn Jahre und hielt jeden Mann über Fünfunddreißig für alt.
Er ging etwas gebeugt, erinnerte sie sich, und trug eine große Hornbrille. Von seinen Geschäften wußte sie fast gar nichts, sie war auch erst seit einem Jahr bei ihm angestellt. Sie kannte auch keine anderen Firmen, mit denen er irgendwelche Geschäfte getätigt hatte. Sie schickte nie Rechnungen aus, und offenbar war ihre einzige Aufgabe, Besucher zu empfangen, die nicht erschienen und Auszüge aus der Tagespresse über die Lebensmittelbörse zu machen. Sie zeigte eine Menge Blätter, die sie im Lauf der Zeit zusammengestellt hatte. Jeden Freitagnachmittag erhielt sie pünktlich ihr Gehalt.
Andy suchte die beiden Londoner Hotels auf, die auf seiner Liste standen. Die Fremdenbücher wurden nachgeschlagen, und man fand tatsächlich, daß Mr. Wentworth an den betreffenden Daten dort gewohnt hatte. Aber die Hotelangestellten wußten auch nichts Näheres über ihn, für sie war er nur eine Nummer.
Andy ging zu Scotland Yard zurück und berichtete.
»Wentworth und Albert Selim sind ein und dieselbe Person«, sagte er. »Wentworth & Wentworth ist eine Schwindelfirma und hat nur den Zweck, Selim Zutritt zum Gebäude zu verschaffen. Erinnern Sie sich daran, daß Selims einziger Angestellter nur zwischen elf und ein Uhr im Büro sein durfte? Wentworth selbst erschien im Ashlar Building nie vor zwei und auch nur an bestimmten Tagen. Der Sekretär Selims hatte dann frei. Für Wentworth war es eine leichte Sache, in Selims Büro zu gehen, die Briefe zu holen und dann wieder in den Räumen der Firma Wentworth & Wentworth zu erscheinen. Wentworths Bankier hat mir gesagt, daß er etwa ein Dutzend große Kästen voll Dokumente hat. Die werden es uns vielleicht möglich machen, die Identität endgültig festzustellen.«
»Hat Wentworth Geld von der Bank abgehoben, seitdem er verschwunden ist?«
»Dieselbe Frage habe ich auf seiner Bank auch gestellt, und man sagte mir, daß das nicht der Fall ist. Das ist sehr leicht erklärbar. Albert Selim wußte, daß wir sofort in sein Büro gehen würden. Er vermutete vielleicht auch, daß wir den Zusammenhang zwischen ihm und Wentworth durchschauten. Wenn er nun als Wentworth einen Scheck von der Bank zog, setzte er sich der Gefahr aus, gefaßt zu werden.«
Andy erhielt die notwendige Vollmacht, um zu den Depots von Wentworth Zutritt zu erhalten. Er saß den ganzen Nachmittag bis in die Nacht hinein im Privatbüro des Bankdirektors und prüfte den Inhalt von sechs übervollen Stahlkassetten.
Seine Tätigkeit wurde erleichtert, als er entdeckte, daß zwei Kästen die Akten der eigentlichen Firma Wentworth enthielten. Offenbar hatte Selim das Geschäft vor einigen Jahren aufgekauft, das schon damals nicht gut ging. Aber unter seiner Leitung waren die Verhältnisse immer schlimmer geworden. Er hatte ja auch keine Veranlassung, Geld durch legitimen Handel zu verdienen, wenn
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