0205 - Die goldene Kralle
war da.
Endlich!
***
Gerd König blieb ganz ruhig. Nur nichts überstürzen, nur keine Panik, sagte er sich, sonst ist alles vergebens. Die Arbeit von Tagen war für die Katz.
Er rief auch nicht nach den anderen, nein, er blieb steif und stumm stehen. Das Gewehr mit den geweihten Silberkugeln hatte er halb erhoben, die Mündung zielte eine Handbreit unter das gefährlich leuchtende Augenpaar, und obwohl es sich nicht rührte, brachte Gerd König es einfach nicht fertig, abzudrücken.
Die beiden, Mensch und Bestie, fochten einen stummen Kampf aus. König hatte das Gefühl, als würde es nur den Tiger und ihn auf der Welt geben. Die Umgebung um ihn herum versank. Sie schien regelrecht aufgesaugt zu werden. Der Mensch kam sich vor wie auf einem anderen Stern.
Die Sekunden flossen dahin. Wie lange hatte er darum gekämpft, die Bestie zu sehen und ihr gegenüberzustehen, endlich war es soweit. Er hatte sie vor der Mündung.
Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn, verdichtete sich zu Tropfen und rann in winzigen, kalten Bächen nach unten, wo er von den Augenbrauen aufgehalten wurde. Das alles merkte der Jäger nicht. Er war nur auf das Tier fixiert.
Der Zeigefinger berührte den Abzug. Selbst das Metall war nicht kühl. Er brauchte den Finger nur ein wenig zurückzuziehen, den Druckpunkt überwinden und zu schießen.
Dann war alles vorbei, und eine wochenlange Jagd hatte ihr Ende gefunden.
Da waren die Augen verschwunden.
Obwohl sich Gerd König auf sie konzentriert hatte, wurde er dennoch überrascht. Zu schnell hatte der andere reagiert. Lautlos war er weggetaucht und wurde von einem dichten Unterholz geschützt.
König hatte das Nachsehen.
Für einen Moment war er irritiert und ließ seine Waffe sinken.
Tief saugte er den Atem ein, die feuchte Luft drang in seine Lungen, und er schloß die schmerzenden Augen, um sie sofort wieder zu öffnen, denn jetzt, wo die Bestie in der Nähe war, durfte seine Wachsamkeit auf keinen Fall nachlassen.
Er löste eine Hand vom Gewehrkolben. Die Handfläche war naß.
Der Schweiß bildete eine glänzende Schicht. König wischte sich die Fläche am Hosenbein ab.
Die anderen schienen die Bestie nicht bemerkt zu haben. König jedenfalls bekam von ihnen kein Zeichen. Es war gut so, denn der Jäger hatte sich vorgenommen, den Wertiger allein zu erledigen.
Die Inder hatte er nur als Rückendeckung mitgenommen. Zudem waren sie gute Führer, die sich auskannten.
Ein Rascheln.
Über ihm.
Gefahr! Jeder Nerv in Königs Körper schrie danach. Er befand sich in einer Extrem-Situation, wirbelte herum und schaffte die Drehung nur halb.
Die Bestie sprang ihn an. Lautlos war sie auf einen Baum geklettert. Jetzt wuchtete sie ihren Körper nach unten, König sah wieder die glühenden Augen, schaltete instinktiv seine Lampe an, riß das Gewehr hoch, und dann traf ihn den Schlag, bevor er noch einen Schuß abgegeben hatte.
Gerd König wurde zu Boden geschleudert. Die Lampe entfiel ihm und blieb im verfilzten Buschwerk stecken. Sie brannte weiter, und der Zufall wollte es, daß ihr Strahl die Bestie erfaßte.
König Augen wurden groß. Er vergaß den Schmerz in seiner Schulter, denn was der Lampenstrahl enthüllte, konnte man als schier unglaublich bezeichnen.
Vor ihm stand kein Tiger und kein Mensch, sondern eine gefährliche Mischung aus beiden.
In der Mitte des Körpers und zwar von oben nach unten lief die genaue Trennung. Die rechte Hälfte der Bestie zeigte die Fratze und das Fell eines Tigers. Herrlich schimmerte es mit seinen gelbschwarzen Streifen. Die linke Seite zeigte das Gesicht eines bärtigen Mannes, einen aufgerissenen Mund mit normalen Zähnen, ein Auge, die Hälfte einer Nase, sowie ein Ohr. An der rechten Seite des Mundes waren zwei scharfe, säbelartige Zähne zu sehen, und aus der Hand war eine Tatze geworden, deren Spitze goldfarben schimmerte.
Die goldene Kralle!
Es gab sie also. Sie war keine Erfindung. Und wie sie aussah!
Schrecklich und faszinierend zugleich. Die Tatze war leicht gekrümmt, und sie bildete vorn die Kralle.
Eine tödliche Waffe…
Gerd König war von dem Anblick so fasziniert, daß er seine Vorsätze vergaß. Er brachte es nicht fertig, seinen rechten Arm zu heben und abzudrücken.
Der Anblick bannte ihn.
Bisher hatte sich der Wertiger noch nicht völlig verwandelt. Er hielt das Zwitterdasein bei. Halb Mensch, halb Tiger. Würde er auch so angreifen?
Sein menschlicher Arm war ebenfalls halb erhoben. Hand und Kralle bildeten einen
Weitere Kostenlose Bücher