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wichtigste Mensch der Welt. Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich werde mich nicht von diesem Verlust erholen."
Glynis schaute ihn scharf an und furchte die Stirn. „Vielleicht ist es gut, dass du fortziehst, Roger. Weißt du, Eleanor und du könnt nicht für immer zusammen sein.
Sie wird bald mit einem jungen Herrn verlobt werden, und keiner von euch beiden wird in dieser Angelegenheit etwas zu sagen haben. Nein, vielleicht ist es besser, euch jetzt zu trennen und euch Lebewohl zu sagen."
Roger dachte an Lea mit ihren großen dunklen Augen und der dichten dunklen Haarfülle und empfand den überwältigenden Wunsch, sie zu beschützen. Er wusste, er würde stets so für sie empfinden, ganz gleich, auf welche Weise sie von ihm getrennt war, ganz gleich, wie weit sie voneinander entfernt waren. Schließlich nickte er. „Ja, vielleicht hast du Recht, aber falls ich je in der Lage sein sollte, ihr nützlich zu sein, werde ich das tun."
„Wäre es leichter, wenn ich ihr die Neuigkeit überbrächte?"
„Nein. Zweifellos wird der Graf sie ihr schon mitgeteilt haben. Dieser Sache wegen platzt er fast vor Dünkel." Rogers Stimme hatte seinen Abscheu verraten. „Es ist nicht so, dass de Nantes je daran gedacht hätte, mehr für mich zu tun, als mich zu ernähren und mir ein Dach über dem Kopf zu geben, Mutter. Aber ihn jetzt sagen zu hören, nun, da ich mich Herzog Williams Gefolge anschließen darf, dass meine Abstammung für mich sprechen wird . . . Meine Abstammung wird für mich sprechen, Mama! Großer Gott, was denkt er, wer er ist? Weiß er nicht, was man von ihm hält? Seine Feigheit wird von einem Ende der Normandie bis zum anderen verlacht! Denkt er, ich könnte darauf stolz sein? Er sagt, meine Abstammung würde für mich sprechen. Heilige Mutter Gottes, aber ich würde gern das Blut verhehlen, das ich von ihm habe!"
„Mein Sohn, du musst dich Gilberts wegen nicht schämen." Glynis beugte sich näher und legte tröstend den Arm um Rogers Schultern. „Ja", äußerte sie angesichts seiner fragenden Miene. „Du bist nicht Gilbert de Nantes' Sohn."
Er starrte sie etliche Augenblicke lang an, bis er die Tragweite ihrer Worte voll begriff. „Nicht sein Sohn!" wiederholte er verdutzt. „Aber wie kann das sein? Ich habe seit meiner Geburt in seinem Haus gelebt. Er hat mich als seinen Bastard anerkannt."
„Ja, aber du bist nicht sein Sohn", wiederholte Glynis fest. „Als er mich in die Normandie gebracht hat, gefiel es ihm zu denken, er habe einen Sohn gezeugt, Roger. Gott vergebe mir, aber das war die einzige Chance, die du hattest, und deshalb habe ich nichts Gegenteiliges gesagt."
„Aber du bist seine Buhle."
Glynis war bei dem verhassten Wort zusammengezuckt. „Ich bin seine Buhle", stimmte sie zu, „doch er war mein zweiter Liebhaber. Dein Vater war ein Normanne, und seine Burg steht in England. Ich habe ihn einmal geliebt, seinen Lügen geglaubt, und bin zu ihm gegangen, aber er hat mich an Gilbert verraten." Sie verzog den Mund, und ihre Stimme bekam einen verbitterten Ton: „Ja, ich wurde an Gilbert de Nantes verkauft, als ich dich bereits in mir trug, Roger."
„Heilige Jungfrau Maria! Mutter, mein Vater. . . wer ist mein Vater?"
„Nein." Sie schüttelte den Kopf. „Es hätte keinen Sinn, dir das zu sagen. Es genügt, dir zu sagen, dass du keine Angst davor haben musst, Feigheit geerbt zu haben. Dein Vater, so jung er auch war, hat bei Wakes Rebellion gut gegen mein Volk gekämpft.
Ja, und wurde dafür mit einer normannischen Erbin belohnt."
„Dann ist Lea nicht meine Schwester." Die sachliche Feststellung verriet nicht die verwirrenden Gefühle, die Roger bei diesem Gedanken empfand. Jahrelang hatte es ihn getröstet zu denken, er sei mit ihr verwandt, doch nun ... Er wagte nicht einmal, den unmöglichen Gedanken, der ihm flüchtig in den Sinn kam, zu Ende zu denken.
„Roger, du wirst ihr nichts sagen."
„Warum?"
Glynis wandte sich ab und strich dann das Gewand glatt.
Sie hob den Blick, sah dem Sohn direkt in die Augen und antwortete schlicht:
„Denkst du, dass ich sie nicht ebenfalls liebe? Es ist schlimm genug, in all diesen Jahren die Buhle ihres Vaters gewesen zu sein, Roger, aber zuzugeben, dass ich auch noch einem anderen Mann beigelegen habe . . . Kannst du nicht begreifen, dass das mich in ihren Augen zu einer Metze abstempeln würde?"
Das Gespräch wurde durch die Geräusche mehrerer Männer unterbrochen, die die Treppe zu Graf Gilberts Zimmer heraufkamen. Hastig
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