0226 - Tokatas Erbe
wir sind zumindest einen Schritt nähergekommen. Der Mann heißt Ganasaro und lehrt an der hiesigen Uni japanische Geschichte. Ihn werden wir besuchen.«
»Und seine Adresse?«
»Habe ich auch.«
Suko schaute mich an.
»Worauf warten wir dann noch?«
***
Der japanische Dozent hatte sich ein kleines Haus im Stadtteil Brompton gemietet. Er wohnte in der Pont Street, nicht weit von der St. Columba's Church entfernt.
Das Haus war klein. Es lag neben einem Supermarkt und schien von ihm fast erdrückt zu werden. Wir fanden einen Parkplatz schräg auf dem Gehsteig, schritten durch einen kleinen Vorgarten und mußten die Stufen einer Treppe hochsteigen, um an die Haustür zu gelangen.
Dr. Ganasaro hatte uns bereits gesehen und öffnete die Tür. Er lächelte uns an, verbeugte sich und bat uns, sein bescheidenes Heim zu betreten. Das Haus war klein, europäisch eingerichtet, bis auf ein Zimmer, in das uns der Mann führte.
Es zeigte den japanischen Stil, ein Stück Heimat, und wir zogen, wie auch unser Gastgeber, die Schuhe aus. Auf Sitzkissen konnten wir Platz nehmen. Tee stand bereit, und bevor wir unser Anliegen vortrugen, tranken wir erst einmal. Eine Zeremonie, gegen die ich bestimmt nichts hatte, aber in diesem Fall brannte uns die Zeit unter den Nägeln.
Ich hatte Muße, mir den Mann zu betrachten. Er trug europäische Kleidung, einen hellen Sommeranzug, der ihm eigentlich zu weit war, denn seinen Körper konnte man als schmächtig bezeichnen. Das Haar war glatt gescheitelt, das Gesicht wirkte noch jung, obwohl der Mann mindestens 60 Jahre hinter sich hatte. Die klugen Augen forschten in unseren Gesichtern, und er lächelte, als er seine Teetasse wegstellte.
»Ich sehe es Ihnen an, daß Sie es eilig haben. Das Problem scheint schwerwiegend zu sein.«
»Das ist es auch«, gab ich zu.
»Dann bitte.«
Ich setzte mich auf dem Kissen ein wenig bequemer hin und begann mit meinem Bericht. Mit Suko war abgesprochen worden, daß zuerst ich redete, dann kam er an die Reihe. Wir wollten chronologisch vorgehen.
In Dr. Ganasaro fanden wir einen stummen, aber sehr aufmerksamen Zuhörer. Ein paarmal bewegte er nickend den Kopf, wenn ich von besonders brisanten Szenen berichtete. Der Mann schien zu verstehen, und er würde uns auch nicht auslachen, das war sicher.
Nach mir erzählte Suko. Er hielt sich wie ich genau an die Tatsachen und schmückte auch nichts aus. Als mein Partner seinen Bericht beendet hatte, neigte der Wissenschaftler seinen Kopf.
»Es ist schlimm«, murmelte er. »Sehr schlimm, sogar. Ich hätte nicht gedacht, daß sich die Voraussetzungen so schnell erfüllen würden.«
»Wie meinen Sie das, Doktor?« fragte ich.
»Der Bruderkrieg ist in vollem Gange; Susanoo hat es nie überwunden, daß er von Amaterasu zum Schluß doch noch besiegt wurde, denn man hat sie mit einem Spiegel aus der Dunkelwelt hervorgeholt und ihren Bruder verstoßen.«
»Dann ist ja alles klar«, rief ich.
»Wenn Amaterasu…«
»Es ist unhöflich, einem Gast ins Wort zu fallen«, sagte der Japaner, »aber in diesem Fall muß ich mich über die Konventionen hinwegsetzen. Auch Amaterasu hat nicht mehr die Macht wie vor Tausenden von Jahren. Sie sitzt in ihrem Reich und kommt nicht mehr heraus. Es ist zwar das Reich der aufgehenden Sonne, für sie gleichzeitig auch ein Goldener Käfig. Was der Bruder wünscht, läßt sich mit wenigen Worten umschreiben. Eine Umkehrung des Ganzen. Amaterasu soll wieder in die Dunkelheit gestoßen werden, damit er ans Licht gelangt. Das ist eigentlich alles.«
»Kann die Sonnengöttin gegen ihren Bruder nichts unternehmen?« fragte Suko.
»Nein.«
»Haben auch wir keine Möglichkeit?«
Da wiegte der Wissenschaftler den Kopf. »Man müßte Susanoo zwingen, seine Geisel wieder herauszugeben.«
»Und so etwas kann klappen?« Suko schaute Dr. Ganasaro hoffnungsvoll an.
»Durch eine Beschwörung.«
Jetzt war es heraus, und wir mußten die Antwort erst einmal verdauen. Suko und ich nickten.
»Das ist wirklich eine Chance«, murmelte ich und hatte Angst vor der nächsten Frage.
»Können Sie die Beschwörung durchführen?«
»Unter Umständen.«
»Was gibt es für Hindernisse?« Suko hatte gesprochen. Er saß wie auf glühenden Kohlen.
»Ich kann die Beschwörung nicht sofort durchführen«, erklärte er.
»Dazu brauche ich Platz und auch Zeit.«
Er räusperte sich. »Zudem muß sie erfolgen, wenn der erste Sonnenstrahl das Dunkel der Nacht erhellt, also in den Morgenstunden, und der
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