0228 - Der Leichenpfad
mit seinen geisterhaften Fingern alles umhüllte. Die Weiße Frau!
Automatisch dachte Göpfert an die Spukgestalt. Ob sie hier aufgetaucht war und den Pfarrer getötet hatte, denn irgendwie rechnete Göpfert damit, daß der Pfarrer nicht mehr am Leben war.
Aber er mußte sich überzeugen.
Der Mann erhob sich von der Sitzbank. Er konnte kaum stehen, so sehr bebten seine Knie. Die Zähne schlugen aufeinander, denn die heiße Angst schüttelte ihn durch.
Als er auf der kleinen Trittsprosse stand, beugte er sich vor und stieß sich ab.
Von ihm aus gesehen hinter dem Pfarrer landete er auf dem weichen Boden.
Für einen Moment blieb er dort hocken und lauschte in die beklemmende Stille. Von keinem Geräusch wurde sie unterbrochen, nicht einmal von seinem Atmen, denn er versuchte, nur durch die Nase Luft zu holen.
Der Geistliche lag auf dem Bauch. Er hatte die Arme angewinkelt, die Hände waren zu Fäusten geballt, das graue Haar bedeckte den Kopf. Göpfert schüttelte sich, als er den Arm ausstreckte und den Pfarrer an der Schulter berührte.
Sofort zuckte seine Hand wieder zurück, der Pfarrer jedoch hatte sich nicht bewegt, es war nur Göpferts Einbildung gewesen, weil er sich so fürchtete.
Eine innere Stimme riet ihm, wegzulaufen, aber er überhörte sie, denn einmal weglaufen, das reichte. Hier mußte er die Stellung halten und sich selbst überwinden.
Göpfert starrte auf den Körper. Er wollte herausfinden, ob der Pfarrer noch lebte, denn falls er atmete, mußte sich auch der Rücken bewegen. So sehr der Mann auch schaute, er konnte kein Anzeichen für eine Atmung feststellen.
Göpfert begann zu zittern. Für ihn war klar, daß der Pfarrer nicht mehr lebte. Es war noch ein Toter hinzugekommen, zu den anderen, die auf der Leichenkarre lagen. Durch das Gitter an der Seite war ein Arm gerutscht. Göpfert verzog das Gesicht, denn er kannte den Mann, zu dem der Arm gehörte. Es war der Wirt des Dorfgasthofes.
»Nein, nein!« keuchte der Mann, »hier bleibe ich nicht länger, da wird man ja verrückt.« Er schaute sich gehetzt um und spielte wieder mit dem Gedanken, zu den anderen zu flüchten.
Aber was sollte er ihnen sagen? Wie konnte man den Leuten den Tod des Pfarrers klarmachen?
Göpfert befand sich in einer Lage, die er nicht mehr überschauen konnte. Er war einfach überfordert. Geduckt hatte er sich hingestellt, wischte seine feuchten Hände am rauhen Stoff der Hose ab und glaubte, durchdrehen zu müssen, als er feststellte, daß sich der totgeglaubte Pfarrer plötzlich bewegte.
Er zog das rechte Bein an.
Zuerst wollte Göpfert es nicht glauben, er dachte an eine Täuschung, dann sah er, daß er sich nicht geirrt hatte. Der Pfarrer bewegte sich in der Tat.
Und er stand auf.
Schwerfällig, als hätte er lange geschlafen und wäre zu plötzlich erwacht. Die Nebelschlieren umgeisterten seine Gestalt, die innerhalb des Graus wie ein düsterer Schatten wirkte. Er schwankte noch, und Göpfert wollte ihm eigentlich helfen, aber er stellte fest, daß er sich kaum bewegen konnte.
Wie angeleimt stand er auf dem Fleck und beobachtete den für ihn unheimlichen Vorgang, wie der Pfarrer auf die Füße kam.
Langsam drehte er sich um.
Göpfert bebte vor Angst.
Da schaute ihn der Pfarrer an.
Fahl und blaß war sein Gesicht. Der Mund mit den dünnen Lippen zeigte einen schiefen Knick nach rechts, die Augen blickten starr, die Arme hingen zu beiden Seiten des Körpers, und die Hände waren geöffnet, wobei die Finger nach innen gebogen waren und auf die Handflächen zeigten.
»Herr…Herr Pfarrer?« hauchte Göpfert.
»Ja…«
»Was ist geschehen? Ich dachte…«
Göpfert verstummte, denn was er zu sehen bekam, war fürchterlich. Der Pfarrer trug immer ein kleines Holzkreuz bei sich.
Bei seinem Fall mußte es irgendwie so gerutscht sein, daß es jetzt frei vor seiner Brust lag.
Nicht lange, denn auf einmal zersprang das Kreuz!
Göpfert bekam mit, wie die einzelnen Teile zur Seite wirbelten, er selbst wurde noch getroffen, zuckte zurück und hörte das schlimme Lachen des Pfarrers.
In diesen Augenblicken war ihm klar geworden, daß etwas Schreckliches mit dem Geistlichen geschehen sein mußte. Eine andere, böse Macht oder Kraft hatte von ihm Besitz ergriffen, denn ein Mensch war der Geistliche nicht mehr.
Breitbeinig hatte er sich aufgestellt, seine Arme ebenfalls vom Körper gespreizt, und aus seinem Mund drangen abgehackte und rauh klingende Wortfetzen. Er verdrehte die Augen, so daß das Weiße
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