0233 - Allein in der Drachenhöhle
die Hüften und entriss der Horror-Oma jegliches Gefühl.
»Das ist der Tod!« hörte sie die flüsternde Stimme. »Wie ein Gift, ein schleichendes Gift, das die Menschen zerfrisst und die Seelen der Hölle bringt…«
Weit hatte Mrs. Goldwyn die Augen aufgerissen. Noch bekam sie Luft, sie atmete schnell und keuchend, doch sie spürte bereits den unsichtbaren Ring, der sich um ihre Brust gelegt hatte und das Atmen immer mehr zu einer Qual werden ließ.
Auch die Arme verloren an Kraft, die Finger wollten ihr nicht mehr gehorchen, öffneten sich…
»Das alles hättest du dir ersparen können, alte Frau«, vernahm sie wieder die Stimme des Dämons.
»Aber du, du wolltest herausfinden, wer mächtiger ist. Ein Mensch kann nicht gewinnen…«
... gewinnen... gewinnen... gewinnen...
Das letzte Wort dröhnte in ihrem Kopf nach. Es war ein grausamer Widerhall, wie makabre Glockenschläge, und sie musste erleben, dass alles umsonst war.
Als wären ihre Finger mit unsichtbaren Bändern verbunden, so wurden sie in die Höhe gezogen, und das so wertvolle Buch rutschte weiter über die Hand. Dann lag es frei.
Lady Sarah schluchzte auf. Es war eine letzte, verzweifelte Reaktion, denn sie hatte festgestellt, dass der Wille ihr nicht mehr gehorchte. Ihr eigenes Ich war ausgeschaltet, vorbei, beendet…
Umsonst der große Kampf…
Und der Spuk konnte an das Buch herankommen, ohne das Kreuz berühren zu müssen. Er war eben der Stärkere.
Ein schmaler Schatten senkte sich dem Buch entgegen. Vielleicht noch eine Sekunde, dann befand es sich im Besitz des Spuks.
In diesem Moment fiel etwas Silbernes von oben herab und blieb genau auf dem Buchdeckel liegen.
John Sinclairs Kreuz!
***
Es war wirklich die allerletzte Chance gewesen, um Lady Sarah Goldwyn zu retten. Dabei hatte ich Angst gehabt, zu spät zu kommen. Auf dem Weg war uns noch ein völlig aufgelöster und entsetzter Pfarrer in die Quere gelaufen, den Suko beruhigen musste.
Ich war weitergerannt, an den Spuk und Lady Sarah herangekommen und hatte das Kreuz schleudern können. Ein Glückswurf, dass es tatsächlich liegengeblieben war, denn die Chancen hatten wahrlich nicht gut gestanden.
Würde der Spuk trotzdem zugreifen?
Eine Frage, die ich nicht beantworten konnte, wobei ich allerdings hoffte, dass er zurückzuckte. Ich hatte ihn schon mal mit dem Kreuz attackiert, ihn allerdings nicht vernichten, sondern nur schwächen können. Aber auch eine Schwächung wollte er nicht in Kauf nehmen.
Der Spuk zog sich zurück. Es geschah so schnell, dass wir kaum folgen konnten. Mit den Augen so gut wie nicht zu sehen, ein bizarrer Schatten in der Luft vorbei.
Wir standen da, schauten in einen dunklen Himmel und über einen leeren Platz, auf dem mal eine Kirche gestanden hatte, von der jetzt nur der Altar übriggeblieben war.
Ich hatte das Buch. Es lag vor meinen Füßen, und ich brauchte es nur aufzuheben. Das verkniff ich mir, denn wichtiger war in diesen Augenblicken Sarah Goldwyn.
Sie lag da wie tot.
Das Buch konnte ich getrost liegen lassen. Es war durch das Kreuz geschützt, und als ich mich nach Lady Sarah bückte, sagte Suko: »Hoffentlich ist sie nicht…«
»Keine Sorge, ihr beiden, Unkraut vergeht nicht so leicht.« Wir hörten ihre Stimme, leicht krächzend, erschöpft klingend, aber die Horror-Oma lebte. Und das allein zählte.
»Helft mir mal auf die Beine, ihr jungen Dachse. Schließlich habe ich hier die Stellung gehalten.« Da hatte sie ein wahres Wort gesprochen. Wir überboten uns gegenseitig bei unserem Bemühen, die Horror-Oma wieder auf die Füße zu bekommen.
Wie der Körper eines Aals, so hatte sich ihr Arm um das Kreuz gewickelt. Es musste ihr tatsächlich als ein Anker vorgekommen sein. Ein Anker der Hoffnung, der Rettung.
Schließlich stand sie und schaute uns an. Sie wollte etwas sagen, da versagte die Stimme. Ich sah, wie sie schluckte, sich ihr Mund öffnete und ein Schauer über ihr Gesicht lief. Schließlich wurden ihre Augen nass, und dann fiel sie gegen mich und weinte.
»Junge«, schluchzte sie. »Verflixt, das möchte ich nicht noch einmal mitmachen.«
Mehr brauchte sie an sich nicht zu erklären. Wenn Lady Sarah das so aussprach, wusste ich ganz genau, dass sie Schlimmes hinter sich hatte. Harte Minuten, wo sie zwischen Leben und Tod geschwebt hatte. Wir ließen sie weinen, und mein Blick glitt über ihren Kopf hinweg dorthin, wo die Kirche gestanden hatte.
Da befand sich nichts mehr! Keine Mauer, keine Bänke, alles war
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